Keinmaerchen
entwickelt haben. Eine unbekannte Spezies, deren Urväter und Mütter einst Obdachlose waren, die inmitten des Unrats eine neue Heimat und Lebensgrundlage fanden.
“Pritunia”, sagt sie, “du spinnst.” Sie bleibt stehen und wiederholt den Namen. “Pritunia.” Wie lange ist es her, dass sie jemand bei ihrem Vornamen genannt hat? Das Kind, das diesen Namen trug, starb, als sie zu Dr. Stein wurde. Nicht einmal sie selbst hat den Namen wieder gebraucht. Sie hat ihn gehasst und sie hasst ihn noch immer. Sie streicht ihn aus ihrer Erinnerung. Namen sind unwichtig. Überflüssig. Sie bezeichnen etwas, das niemals den Menschen beschreiben kann, der ihn trägt. Hätten Namen eine Bedeutung, so würden sie mit ihrem Träger wachsen, sich verändern. Und sie wären einzigartig, keine beliebige Zusammensetzung aus bedeutungslosen Buchstaben.
Das Aggregat hustet, verschluckt sich und verstummt. Dr. Stein kramt in ihrem Rucksack und schaltet die Taschenlampe ein. Gut, dass sie daran gedacht hat. Die Stille braucht einen Augenblick, bis sie den Nachhall des mechanischen Brummens übertönt. An den Wänden tanzen geflügelte Schatten. Dr. Stein faltet den Gebäudeplan auseinander und fährt mit dem Finger die eingezeichneten Fluchtwege nach. Immer mehr Albe scharen sich um sie. Warten geduldig, bis sie den Rucksack wieder geschultert hat und in den Gang zu ihrer Rechten tritt.
Der Boden ist abschüssig und führt noch tiefer nach unten. Die Luft riecht muffig. Verbraucht. Als wäre sie schon viel zu oft ein- und ausgeatmet worden.
Es war einmal eine Prinzessin, die viel lieber ein Frosch gewesen wäre.
Lass das. Ich bin zu alt für diese Geschichten. Bitte.
Aber du mochtest die Geschichte doch immer so gerne.
Bitte, Mutter, damals war ich acht Jahre alt. Ich bin erwachsen geworden.
Nein. Nein, das bist du nicht.
Dr. Stein bleibt stehen und stützt sich an der Wand ab. Sie lauscht in die Dunkelheit jenseits des blassgelben Kegels, den die Taschenlampe auf den Boden wirft. Waren das Stimmen? Sie schüttelt den Kopf. Das muss an der Sauerstoffarmut hier unten liegen. Wahrscheinlich wurde die Frischluftzufuhr unterbrochen. Das Atmen fällt schwer. Jedes Heben des Brustkorbs, jedes Einatmen strengt an. Das Ausatmen klingt ungesund. Sie wischt sich den kalten Schweiß von der Stirn, streicht die Haare hinter das Ohr und hält in der Bewegung inne. Sie sind lang. Wann hat sie ihr Haar zum letzten Mal lang getragen? Sie lässt eine Strähne durch die Finger gleiten und beobachtet, wie sich das Rot im Lampenschein verändert. In ihrer Handfläche die alte Narbe. Sie blutet. Dr. Stein zieht ein Taschentuch aus ihrer Jackentasche und wickelt es um die Hand, zieht den Knoten mit den Zähnen fest. Zwei schwere Atemzüge, dann stößt sie sich von der Wand ab. Sie muss weiter.
Weiter und weiter.
Endlich. Endlich streift der Lichtkegel die Wendeltreppe, die in die unterste Ebene führt. “Wir haben es geschafft”, sagt sie. “Seht ihr?”
Die dunklen Schatten heben die Klauen vor die Gesichter, als der Lampenschein sie streift. Es sind so viele. So viele. Sie drängen sich in dem engen Gang, kein Platz, um die Flügel auszubreiten, und doch sind sie schön. So schön. Dr. Stein lächelt. “Wollen wir?”, fragt sie und greift nach dem rostigen Geländer.
Ihre Schritte hallen metallisch durch die Dunkelheit. Hinab in die endlos erscheinende Tiefe und wieder zurück nach oben. Dr. Stein verschnauft. “Nur einen Augenblick”, sagt sie. “Lasst mich nur zu Atem kommen.” Ihre Stimme klingt heiser, ihr Mund ist trocken. Die Augen brennen wie von dichtem Rauch. “Spürt ihr das? Dort unten lauert etwas.”
Etwas. Etwas Böses. Was für ein Blödsinn. Gut und Böse sind Definitionen, die so irreal sind wie rot und blau und lediglich aus Buchstaben bestehen, so bedeutungslos wie die Wörter, die irgendjemand einmal erdacht und ihnen eine Bedeutung zugeordnet hat. Willkür. Die ganze Welt besteht aus einer Ansammlung von willkürlichen Begriffen.
Hätte jemand dem Blau des Meeres den Namen böse gegeben, so würden Millionen Verliebte auf böses Wasser sehen, während sie darauf warten, dass die sinkende Sonne das Wasser berührt. Und ein Serienkiller wetzte die Klinge seines Messers, während blaue Gedanken seinen Geist erfüllten und keinen Raum für etwas anderes ließen.
“Es wird Zeit”, sagt sie und tastet nach dem Puls an ihrem Handgelenk. Zu schnell, zu unregelmäßig, aber immer noch okay.
Stufe für Stufe.
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