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Keinmaerchen

Keinmaerchen

Titel: Keinmaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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Tastend, die Hand an das schwankende Geländer gekrallt. Vor den Augen wirbeln rote und blendend weiße Staubkörner. Der Lichtkegel erfasst den Steinboden am Treppenende. Dr. Stein lässt sich auf die vorletzte Stufe sinken und legt die Lampe neben sich ab. Rasselnder Atem und stechende Schmerzen in der Brust. Ausruhen. Nur einen Moment ausruhen.
    Sie spürt keinen Schmerz, als ihr Hinterkopf auf die Kante der Treppe schlägt, spürt nicht das warme Rinnsal, das aus der Wunde fließt und ihr Haar verklebt. Ausruhen. Nur einen Augenblick.

Nemesis
    Fünfmal stieg die fahle Sonne der Menschenwelt bereits über die Berge und wir sind unserem Ziel nur unmerklich nähergekommen. Die verdorrten Flügel meiner entseelten Brüder können ihre Körper nicht tragen, so müssen wir den Weg zu Fuß zurücklegen. Wie Marionetten bewegen sie sich, als würden ihre Glieder von einem unerfahrenen Puppenspieler gelenkt. Hölzerne Bewegungen, die einst so stolzen Häupter gesenkt, aus den Mundwinkeln rinnt Speichel, die Augen blicklos auf die Füße gerichtet. Ein grotesker Leichenzug.
    Sie sind hungrig, so hungrig, aber zu schwach, um ihren Hunger zu stillen. Ich muss sie nähren, sonst sterben die Toten einen weiteren Tod, der unendlich grausamer sein wird als der vorangegangene. Die Haut Ihrer Körper ist ausgetrocknet und welk, das Fleisch kraftlos, in ihren Adern fließt kein Lebenssaft, nur brackiges Wasser aus dem Höllentümpel, aus dem ich sie befreite. Blut. Sie gieren nach Blut und ich werde sie nähren. Das bin ich ihnen schuldig.
    Wir setzen unseren Weg des Nachts fort. Meine Brüder scheuen das Tageslicht. Ihre Augen sind im undurchdringlichen Kabut empfindlich geworden, die Haut beginnt beim leichtesten Sonnenstrahl zu glühen.
    Ich stehle einen Säugling aus einer Behausung, die am Rande der Menschensiedlung liegt. Wie klein und hilflos ihre Jungen sind: Es schläft in meinen Händen, ist sich keiner Gefahr bewusst. Die Instinkte der Menschen sind verkümmert, ein Wunder, dass ihre Rasse immer noch existiert.
    Erst als ich meine Brüder erreiche, erwacht es, es zappelt und kreischt wie eine Katze, die in einen Brunnen gefallen ist, und es stinkt wie nur Menschen stinken können. Meine Brüder regen sich, erheben sich von ihren Lagern unter den Bäumen. Ihre Nüstern blähen sich, wittern, Speichel tropft aus ihren Mündern. Nährt euch, Gefährten, nährt euch und erstarkt.
    Der Anblick macht mich schaudern, sie umkreisen das zappelnde Bündel wie ein Wolfsrudel auf der Jagd, nähern sich auf Händen und Füßen wie Tiere. Ich schäme mich ihrer. Mein einst so stolzes und aufrechtes Volk. Sie warten, lauern, wittern, geifern. Und dann wird aus den Wölfen ein flinkes Rattenrudel. Das Menschenkind schreit nicht mehr, zappelt nicht mehr, ist nicht mehr.
    Ich wende meinen Blick ab. Nicht aus Mitleid, ich weiß, dass dies erst der Anfang war. Der Anfang von etwas Neuem, etwas, das ich nicht geplant hatte, das aber unvermeidlich war. Schicksal? Nein. Entwicklung, Anpassung? Möglich. Ich werde sie nicht zurückschicken können, auch das weiß ich nun. Nicht einmal Anaximandros könnte das vollbringen. Ich kann es in ihren Blicken lesen. Niemals wieder werden sie in das Seelenbecken zurückkehren.
    Aber was macht es schon, wenn sie sich an unseren Feinden nähren? Blut bedeutet Tod, Blut bedeutet Leben. Das Leben der Menschen für das unsere. So soll es sein.
     
    #
    Eine Spur aus Blut zeichnet unseren Weg nach. Meine Brüder werden kräftiger, ihre Körper erstarken, doch ihr Geist scheint für immer verdorrt zu sein. Sie folgen mir wie die Höllenhunde ihrem Herrn. Geifernd, nach Futter lechzend, reißen sie mir die warmen, zitternden Menschenleiber aus den Klauen. Doch sie sind auch besonnener geworden, sie trinken das Blut, doch verschmähen nun das faulig stinkende Fleisch.
    Ich kann unser Ziel schon riechen. Die Luft wird dicker, der Gestank greifbarer. Wir haben die Grauen Berge weitläufig umgangen, durchstreifen das Grasland. Die ersten Behausungen tauchen im Dämmerlicht auf. Ich reiße die lächerlichen Türen aus den Angeln, betrete die Wohnstätten mit hocherhobenem Kopf, lasse sie in meine Augen blicken, bevor ich sie nach draußen schleife. Ich labe mich an ihrer Furcht, betrinke mich an ihren Schreien, wie meine Brüder an ihrem Blut. Ich sehe zu, wie das Leben aus ihren Körpern weicht, wie ihre Seelen verwelken. Und in ihrer letzten Sekunde beuge ich mich über sie und spucke ihnen ins Gesicht. Niemand

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