Keinmaerchen
Damen und Herren, Wesenheiten, Stinkdings undwerauchimmer, uns bleibt leider keine Zeit mehr, den Überraschungsgast auf die Bühne zu bitten. Wir schalten umgehend um und sehen, wie es weitergeht. Die wenigen Minuten bis dahin überbrücken wir mit einer Toneinspielung der marsianischen Schweigestunde, die ihrerzeit zum Andenken an Botschafter Yu abgehalten wurde und das ganze Universum zu Tränen rührte. Wer erinnert sich nicht gerne an die sintflutartigen Tränenfälle, die den Konstrukteur fast in den Wahnsinn trieben. Soweit von mir, herzlichen Dank.
Kamera aus. Schalt die verdammte Kamera aus. Was? Es ist mir egal, welche Konsequenzen … Darüber kann ich nur lachen. Hahaha! … Kamera aus, du Arschkriecher, sonst … Ach, leckt mich doch …
Dr. Stein
Die Tür des Ofens schließt mit einem dumpfen Knall, dann ist nur noch das Knistern des trockenen Holzes zu hören. Dr. Stein hält das Tagebuch so fest in ihren Händen, als wolle sie Informationen herauspressen. Es ist heiß, so dicht beim Feuer, aber sie weicht nicht zurück. Das ist sie dem Jungen schuldig. Erin. Viel zu kurz die Spanne, die sein junges Leben dauerte. Hier, auf dieser Seite. Dr. Stein lächelt und legt die Hand an die heiße Ofentür, bis sie den Schmerz nicht mehr aushalten kann. Sie betrachtet ihre Handfläche, die Verbrennung wird lange schmerzen und die Narben werden bleiben. Das ist gut.
Sie zieht einen Stuhl heran und setzt sich, blättert in ihren Aufzeichnungen. Es ist vorbei und doch nicht vorbei. Für niemanden. Sie haben eine Tür geöffnet, die aus den Angeln gesprungen ist. Niemand wird sie wieder schließen können. Die Welt wird sich verändern und wer weiß, vielleicht wird sich alles zum Guten wenden? Die Natur findet immer einen Weg. Sie lacht auf. Natürlich tut sie das. Die Erde braucht uns Menschen nicht, sie existierte lange vor uns und sie wird weiter existieren, wenn sich kein Lebewesen mehr an uns erinnert. Vielleicht war die Zeit einfach reif für diese Veränderung.
Die Stimmen der Albe sind verstummt. Als warteten sie respektvoll, bis der Rest von Erins Körper verbrannt ist. Dr. Stein spürt keine Trauer und da sind keine Tränen, die an die Oberfläche drängen. Sie ist von einer inneren Ruhe erfüllt, die ihre Mutter sicher göttlich genannt hätte. Das ist Blödsinn, natürlich, aber es liegt auch ein Funken Wahrheit darin. Es ist gut, an etwas zu glauben, und Dr. Stein glaubt. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie hat Fehler gemacht, mehr Fehler, als ein einziger Mensch machen sollte und doch hat sie das einzig Richtige getan.
Es riecht nach verbranntem Fleisch. Es ist vorbei. “Erin”, sagt sie und der Name fühlt sich gut auf der Zunge an. Erin. Es ist vorbei. Erin. Es beginnt.
Sie steigt auf den Stuhl und schiebt das Tagebuch zwischen den Gitterstäben des Luftschachtes hindurch. Mag es jemand finden und lesen oder mag es dort verrotten. Das Kapitel ist abgeschlossen, es ist an der Zeit, ein neues zu beginnen.
Sie öffnet die Verriegelung der Sicherheitstür und geht den Gang entlang. Die Albe schweigen noch immer, warten, atmen, starren aus rotglühenden Augen. Sie beachtet sie nicht. Ihre Absätze klappern auf dem Fliesenboden.
Der Schlafsaal der Kinder ist unverändert, als wären sie nur zum Spielen nach draußen gegangen. Sie hebt eine Wolldecke auf, faltet sie ordentlich zusammen und legt sie auf eines der Betten. Der Boden ist voller Holzspäne, Marmorstaub. An dem kleinen Tisch klebt Knete. In den Zimmerecken schimmern Spinnennetze. Sie dreht sich noch einmal um, prägt sich den Raum ein, die Werkzeuge, die Schlafplätze. “Es tut mir leid”, sagt sie und geht weiter.
Die Ausgänge sind verschweißt, Dr. Stein geht an ihnen vorbei, ohne sie anzusehen und folgt den Rettungswegschildern, die in die tiefer gelegenen Ebenen führen. Das Brummen des Notstromaggregats wird lauter, die Beleuchtung düsterer. Einige Albe folgen ihr, aber keiner bedrängt sie, sie bleiben auf Abstand und doch kann sie die Angst spüren, die von ihnen ausgeht. Fast so, als wäre sie ein lebendiges Wesen. Die Glühbirnen flackern. Stromschwankungen. Das Aggregat gibt den Geist auf. Dr. Stein lacht. Gutes Timing.
Die Wände in den unteren Ebenen sind kalt und klamm und scharfkantig wie gewachsener Fels. Es würde sie nicht wundern, wenn sie Höhlenbewohnern begegnete. Bleiche Wesen mit vergrößerten Pupillen und tellergroßen Maulwurfshänden, die sich in den Katakomben unter der Müllverbrennungsanlage
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