Kells Rache: Roman (German Edition)
die Seite der Bestie. Der Canker kreischte, bäumte sich auf, und sein Kopf ruckte herum, als seine Haut sich wie ein Reißverschluss öffnete und Muskeln und Sehnen aus der Wunde quollen. Sie waren mit einem winzigen Uhrwerk durchsetzt, das summte, klickte und surrte. Das Monster schlug zu, erwischte Saark mit dem Handrücken und schleuderte ihn über die Plattform zurück. Er rollte über die Bohlen und lag wie betäubt da, während ihm das Blut aus dem Mund quoll. Kell griff an, aber der Canker schnarrte nur, duckte sich unter einem Schlag der Axt hindurch und hämmerte Kell beide Tatzen ins Gesicht. Der alte Krieger taumelte zurück, sank auf ein Knie. Der Canker bäumte sich auf. Er grinste, während Speichel und Blutöl über seine Lippen troff, dann drehte er sich herum, legte den Kopf auf die Seite und starrte Saark an, der sich wieder aufgerappelt hatte.
»Kennst du mich nicht, Saark?«
»Doch. Ich denke, du siehst aus wie mein Vater.«
»Wirklich? Du erkennst mein menschliches Fleisch nicht … siehst nicht die Frau, die ich einmal war?«
Saark runzelte die Stirn und streckte sein Rapier vor, dessen Griff von seinen beschmutzen Spitzenmanschetten bedeckt war. Dann kniff er die Augen zusammen, drehte den Kopf und sah Kell an. Er stieß den Atem aus und taumelte, als hätte man ihm einen Stoß in den Rücken versetzt. »Nein«, sagte er und trat dichter an den Canker heran. »Das kann nicht sein.«
»Ich war einmal eine Frau, Saark.« Der Canker hockte sich hin und griff mit seiner krallenbewehrten, animalischen Hand zu der Wunde in seiner Flanke. Er stopfte die heraustretenden Muskeln wieder in seinen Körper zurück. »Sie haben mich ausgesucht … wegen meiner früheren Verbindung zu dir. Weil … weil wir einmal …«
»Nein!«, schrie Saark. Bilder strömten wie geschmolzener Honig durch sein Gehirn, das sich vor Wut, Entsetzen und Ungläubigkeit wand. Der Canker war Aline, eine frühe Liebe seines Lebens, seine Jugendfreundin. Sie waren Monate durch die wunderschönen Wälder südlich von Vohr gestreift, hatten sich in schattigen Hainen neben murmelnden Bächen geliebt, ihre Namen in die Turmeiche geritzt, die Worte miteinander verschlungen in ein hineingeschnittenes Liebesherz, hatten einander Versprechungen zugeflüstert, waren durch alte Korridore der Burg geschlichen, zu geheimen Schäferstündchen. Sie hatten eben das gemacht, was junge Liebe tut, was leidenschaftliche Abenteuer verlangen, besaßen die Ehre der Naivität. Aber ihre Beziehung hatte nicht sollen sein. Aline war eine Cousine des Königshauses, und ihre arrangierte Heirat und ihr Schicksal wurden von ihrem Vater besiegelt. Er hatte riesige Spielschulden und musste unbedingt mehr Landbesitz und Vermögen an sich raffen. Ihre Trennung war schnell und bitter gewesen, von fünf Soldaten vollzogen, die einen scharfen Dolch an Saarks Kehle hielten. Er hatte dort immer noch eine schmale weiße Narbe, und jetzt berührten seine blutigen Finger die Stelle. Seine Worte klangen erstickt und kamen weit ruhiger aus seinem Mund, als er es beabsichtigt hatte. »Aline, das … kannst nicht du sein.«
»Das haben sie mir angetan, Saark. Sie wussten, dass es dich verletzen würde. Und sie wussten, dass es dich überzeugen würde. Ich muss euch beide zu Graal bringen; dann und nur dann machen sie mich wieder menschlich. Nur dann kann ich wieder eine Frau sein.«
Saarks Blick glitt von der missbrauchten Monstrosität seiner Jugendliebe zu der aufrechten, drohenden Gestalt von Kell. Die Augen des alten Kriegers lagen im Schatten, aber er schüttelte einmal kurz den Kopf. Die Botschaft war klar. Nein. Saark blickte wieder auf den Canker, und in den Augen, die seitlich am Schädel saßen, in den wenigen Strähnen goldblonden Haares, die geblieben waren, in der Anordnung von Gesichtsknochen, die, wenn die Fantasie sie mit einem normalen Schädel assoziierten, ein Gesicht rekonstruierten … nur dann konnte er die Frau aus seiner Jugend erkennen. »Nein«, wiederholte er.
»Hilf mir«, flehte der Canker und senkte unterwürfig den Kopf vor Saark, der spürte, wie sein Herz schmolz, wie sein Verstand sich verweigerte und seine Seele starb.
Saark blickte hinab, hatte sein Rapier vergessen, streckte seine langen, zierlichen Finger aus. Er berührte Aline, berührte die fahle Haut, die Fellbüschel, strich voller Entsetzen über diese perverse Vereinigung von Fleisch und Uhrwerk. Und dann schrie sie … es … der Canker, schrill und lang. Kell war da,
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