Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Könnte die Explosion Prozesse auslösen, die auf bisher unbekannten Naturgesetzen beruhen? Bainbridge ist wütend und Groves irritiert, als sie von Fermis Nebenwette erfahren. Sie halten seine ernsthaften Bedenken angesichts der bevorstehenden Entfesselung der Atomenergie für das gedankenlose Geschwätz eines Miesmachers, der die ohnehin schon angespannte Stimmung auf dem Testgelände noch weiter belastet. Dennoch hält Groves es an diesem Abend für seine Pflicht, John Dempsey, den Gouverneur des Staates New Mexico, anzurufen und ihn zu bitten, sich bereitzuhalten, im Katastrophenfall den Notstand auszurufen.
Als Robert Oppenheimer am späten Sonntagnachmittag den Turm hinaufsteigt, um ein letztes Mal sein Werk zu betrachten, frischt der Wind merklich auf. Gegen 23 Uhr fahren Ken Bainbridge, George Kistiakowsky und Countdown-Manager Joseph McKibben im Nieselregen zum Nullpunkt, um die Bombe scharfzumachen. Don Hornig ist schon auf dem Turm und bringt jetzt einen neuen Generator in Stellung, der über Kabelanschlüsse vom Südbunker aus eingeschaltet werden kann. Er wird die Sprengkapseln der Bombe zünden. Die Meteorologen sind noch mit ihren Instrumenten unter dem Turm beschäftigt. Oben soll Kistiakowsky gelegentlich einen Suchscheinwerfer über das Gelände schwenken. Ein Militärpolizist mit Maschinenpistole im Anschlag steht in Bereitschaft, denn General Groves befürchtet Sabotage in letzter Minute. Über ein am Turm installiertes Telefon und über das Funkgerät im Jeep hält Bainbridge Kontakt zu Oppenheimer und zum Chefmeteorologen Hubbard.
Die Security hat Bainbridge eigene Funkfrequenzen für die Kommunikation auf dem Testgelände zugesagt, doch nun muss der Testleiter entsetzt feststellen, dass die Kurzwellengeräte die Frequenz mit dem Güterbahnhof im 1000 Kilometer entfernten San Antonio, Texas, teilen: «Wir konnten zuhören, wie sie ihre Waggons nach Dienstvorschrift rangierten, und nahmen an, dass die Eisenbahner uns auch hören konnten» [Bai 2 :44]. Am 32 Kilometer vom Detonationsnullpunkt entfernten Aussichtspunkt Compañia Hill, wo ab 2 Uhr die Busse und Privatwagen der geladenen Gäste eintreffen, sind Empfangsgeräte aufgestellt, die den Countdown übertragen sollen. Auch diese Frequenz ist alles andere als exklusiv. Auf diesen Funkwellen schaukelt ein lokaler Rundfunksender seine Unterhaltungsmusik durch die Nacht.
Über dem Camp und dem Südbunker ist inzwischen ein Gewitter hereingebrochen. Es regnet in Strömen, heftige Windböen pfeifen durch die Barracken und lassen die Besucherzelte knattern. Émilio Segrè versucht, sich mit der Lektüre von André Gides «Falschmünzern» abzulenken, «doch ich war wie gebannt von einem unheimlichen Geräusch, dessen Herkunft mir schleierhaft war. Da der Lärm nicht aufhörte, schnappte ich mir eine Taschenlampe und trat mit Sam Allison vor die Tür. Und da sahen wir zu unserer großen Überraschung, wie sich viele hundert Frösche in einer großen Senke paarten, die sich mit Regenwasser gefüllt hatte» [Seg:146].
Am Detonationsnullpunkt sieht Boyce McDaniel die Blitze über dem Camp zucken. Hier fällt zwar nur ein sanfter Nieselregen auf das Wellblechdach über der Bombe, dennoch empfiehlt Hubbard, den für 4 Uhr geplanten Test bis auf weiteres zu verschieben. Das Gelände ist von Pfützen übersät. Um 4 Uhr 45 klart der Himmel über dem Turm auf, ein paar Sterne sind zu sehen, und der Wind dreht in südöstlicher Richtung ab. Hubbard ruft Bainbridge an, gibt ihm einen ausführlichen Wetterbericht und schlägt 5 Uhr 30 als neuen Termin bei «leidlichem, aber nicht idealem» Wetter vor. Auf die Inversionsschicht in 5700 Metern Höhe hätte Bainbridge gern verzichtet, «aber nicht um den Preis, mehr als einen halben Tag warten zu müssen» [Kis 3 :45]. Oppenheimer, Farrell und Bainbridge folgen der Empfehlung des Meteorologen. Um die Bombe scharfzumachen, müssen McKibben und Bainbridge jetzt noch an zwei verschiedenen Schaltkästen im Umfeld vom Nullpunkt Sicherheitshebel umlegen und Kontakte schließen. Als letzten Handgriff knipst Bainbridge eine Reihe von Scheinwerfern am Boden vor dem Turm an und fährt mit McKibben und Kistiakowsky zurück zum Südbunker. Dort angekommen, stellt McKibben um 5 Uhr, 9 Minuten und 45 Sekunden den Zeitschalter auf 20 Minuten ein.
Am Aussichtspunkt Compañia Hill hat sich die Prominenz aus Los Alamos versammelt: Hans Bethe, James Chadwick, Edward Teller, Ernest Lawrence, Edwin McMillan und
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