Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
einer mathematischen Gesetzmäßigkeit unterliegt. Jedes Element benötigt eine genau festgelegte Zeit, um die Hälfte seiner Atome in Atome anderer Elemente umzuwandeln. Diesen Zeitraum nennen sie Halbwertszeit. Mit dieser Größe lassen sich auch chemisch kaum auffindbare Wandlungsprodukte zumindest mathematisch erfassen. Zunächst sind es nur Näherungsrechnungen. Schließlich pendelt sich die Halbwertszeit des Radiums auf 1620 Jahre ein. Jetzt dämmert es den beiden Strahlenpionieren auch, warum bisher keiner der Beobachter weltweit eine Veränderung der Zerfallsrate von Radium und seiner Energieabgabe wahrgenommen hat. Von den 30 Milligramm Radium in Soddys Besitz werden in 1620 Jahren noch 15 Milligramm übrig sein, in 3240 Jahren 7,5 und in 4860 Jahren 3,75 Milligramm.
Unvorstellbar langsam, stellen Rutherford und Soddy erstaunt fest, zerfallen hingegen die Uranatome. Die Halbwertszeit erstreckt sich über viereinhalb Milliarden Jahre. Damit stoßen die Wissenschaftler in Dimensionen vor, die selbst phantasievolle Geologen bisher noch nie mit dem Alter irdischer Materie in Verbindung gebracht haben. Keinem Wissenschaftler zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind solche großen Zahlen geheuer. Manche Umwandlungsprodukte des Urans verlieren hingegen bereits nach wenigen Mikrosekunden, Stunden oder Tagen die Hälfte ihrer Substanz und Strahlung. Das direkt aus dem Radiumzerfall entstehende Gas Radon hat zum Beispiel eine Halbwertszeit von knapp vier Tagen. Auch wenn die Thesen von Rutherford und Soddy im Einklang mit den Labordaten stehen, so bringen sie in diesem dritten Jahr des 20. Jahrhunderts mit der Zerfallstheorie und der Umwandlung von Elementen einen Stützpfeiler der Chemie ins Wanken, nämlich die Lehre von der Unzerstörbarkeit der chemischen Elemente. Lebloser Materie eine Wandlungsfähigkeit zuzuschreiben, klingt verdächtig nach dem alchemistischen Traum von der Transmutation der Stoffe. Nach diesem unerhörten Angriff auf ein chemisches Dogma müssen Rutherford und Soddy darauf gefasst sein, als Ketzer beschimpft zu werden.
Noch einmal untersucht Frederick Soddy die Eigenschaften des Radiums, die Marie Curie bereits beschrieben hat. In seinen öffentlichen Vorträgen über das Phänomen Radioaktivität zeigt er sich vor allem fasziniert von der völligen Unabhängigkeit des Zerfallsprozesses gegenüber äußeren Einwirkungen. Ob er seine Radiumprobe nun mit Hilfe hochmodernen Laborequipments extremer Kälte aussetzt oder auf 2500 Grad Celsius erhitzt, ob er sein Präparat in einer Stahlbombe unter einem Druck von 1000 Atmosphären zur «Explosion» bringt oder es mit aggressiven Säuren behandelt: Die Strahlung des Radiums bleibt stets konstant. Selbst die stärksten elektrischen Entladungen, Magnetfelder und Zentrifugalkräfte können die Zerfallsrate des Radiums nicht verändern und schon gar nicht stoppen. Soddy wird hier zum machtlosen Beobachter, dessen Versuche, in den atomaren Wandlungsprozess einzugreifen, lächerlich wirkungslos bleiben.
Deshalb fühlt er sich an ein kosmisches Phänomen erinnert, das ihn ebenfalls in die Rolle des staunenden Zuschauers versetzt. Denn entzieht sich das seit Urzeiten unaufhörlich brennende Feuer der Sonne nicht ebenfalls ganz und gar menschlicher Kontrolle? Und so erscheint ihm das verschwindend winzige Radiumkörnchen in seiner Kapsel – dieses wertvolle Destillat aus einem mit Pechschwärze assoziierten Erzgebirgsstein – wie eine Miniatursonne in seiner Hand, deren Licht und Wärme er wahrnehmen, aber nicht beeinflussen kann. Angeregt von diesem Gedankenspiel, macht er eine einfache Rechnung auf und kommt zu einem verblüffenden Ergebnis. Sein von Friedrich Giesel präpariertes Radium strahlt, relativ zu seiner Masse, mehr Energie ab als unser Zentralgestirn und jeder andere Stern im bekannten Universum. Bestünde die Masse unserer Sonne aus reinem Radium, würde sie eine Million Mal mehr Licht und Wärme verbreiten [Sod:36 f.].
Bei genaueren Untersuchungen radioaktiver Substanzen macht Ernest Rutherford eine bedeutende Entdeckung. Er identifiziert zwei Strahlungsarten, die Materie mit unterschiedlichem Erfolg durchdringen. Er nennt sie Alpha- und Betastrahlen. Die 20 000 Kilometer pro Sekunde schnelle Reise der Alphastrahlen ist schon nach wenigen Zentimetern beendet. Sie werden von der Luft absorbiert. Schon ein Blatt Papier genügt, um die Alphastrahlung einer radioaktiven Quelle vollständig abzuschirmen. Betastrahlen sind mit
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