Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
andächtig davor und staunte über die hell leuchtende Substanz. Ein so starkes Präparat hatte er noch nie gesehen. Wenn die Alchemisten vom splendor solis – Sonnenglanz – schwärmten, der in der substantia nigra – im dunklen Stoff – verborgen sei, dann ließe sich hier, im Garten der Radiummeister, dieses uralte alchemistische Gegensatzpaar ganz zwanglos mit Radium und Pechblende gleichsetzen.
Sieht man einmal von den windigen Goldmachern unter den historischen Alchemisten ab, dann ist für die ernsthaften Adepten die Auflösung irdischer Substanzen im reinigenden Feuer ihrer Schmelztiegel nur ein Symbol für die Notwendigkeit, selbst mutig ins Dunkel der eigenen Seele hinabzusteigen und eine Läuterung des Geistes zu bewirken. Es geht um nichts Geringeres als um das Geheimnis von Tod, Wiedergeburt und Transzendenz sowie um das schmerzliche Bedürfnis, handelnd in diesen Prozess einzugreifen. Auf der kosmischen Betrachtungsebene geht mit dem langsamen Zerfall der Materie auch ein unabwendbarer Abstieg ins Chaos einher. Die Vision unheilvoller Ereignisse gipfelt schließlich in der Vernichtung der Erde. Die Reinigung der Welt im globalen Feuer nährt die Hoffnung auf ein nachfolgendes Goldenes Zeitalter. Und das ist eine der vielen «wahren» Bedeutungen der alchemistischen Umwandlung unedler Metalle in Gold.
Der morbiden Faszination dieses alchemistischen Beziehungswahns können sich Rutherford und Soddy offenbar nicht ganz entziehen, zumal ihnen die potenzielle Zerstörungskraft der Uranenergie nicht verborgen geblieben ist. Vor allem Soddy macht sich in seinen populärwissenschaftlich gehaltenen Vorträgen Gedanken über die Freisetzung der atomaren Energie. Er hält eine kleine Flasche mit Urandioxid in die Höhe und beziffert den Energiegehalt auf den Brennwert von rund 200 Tonnen Steinkohle. Das Uran habe ja über einen unvorstellbar langen Zeitraum, der dem mutmaßlichen Alter der Erde entspreche, reichlich Energie abgegeben. Um sie zum unmittelbaren Gebrauch anzuzapfen, überlegt Soddy, müsse man eine Möglichkeit finden, den Zerfall des Urans künstlich zu beschleunigen. Was ja auch die Transmutation selbst in Gang setze. Und an dieser Schnittstelle ließen sich nach Soddys Ansicht Alchemie und moderne Wissenschaft am ehesten versöhnen: «Mit der Transmutation der Elemente geht die Macht einher, die in der Materie eingeschlossene Energie freizusetzen» [Sod:230].
Aber die Einsicht in das Ausmaß der Energiefreisetzung im Uran jagt ihm auch einen ordentlichen Schrecken ein, weil sie die Visionen vom Ende der Welt erstmals in den Bereich des Realisierbaren rücken lässt. Mit der Atomenergie besäße der Mensch «eine Waffe, mit der er die Erde zerstören könnte, wenn es ihm beliebt». Seine Zuhörer beschwört er, «mit ihm zu hoffen, dass die Natur ihre Geheimnisse wahrt» [Hof 1 :32]. Ernest Rutherford hält eine militärische Nutzung der Atomenergie für möglich: «Fände man einen geeigneten Zünder, wäre es denkbar, dass sich eine Welle des atomaren Zerfalls explosiv durch die Materie fortpflanzt, bis die ganze Masse der Erdkugel nur noch ein Heliumwrack wäre» [Cam:277]. Rutherfords Ausspruch vom Labortrottel, der aus Versehen die ganze Welt in die Luft sprengen könnte, wird zum geflügelten Wort. Vielleicht dachte er dabei an das erste missglückte Experiment aus seiner Kindheit. Mit einem hohlen Garderobenhaken als Kanonenrohr und einer Hand voll Schießpulver wollte der Zehnjährige im elterlichen Garten eine Murmel auf eine Zielscheibe schießen. Die Explosion zerfetzte die Kinderkanone, und die Murmel plumpste zu Boden.
Mit Explosionen kennt sich Rutherford inzwischen gut aus. Sie geschehen paradoxerweise lautlos und unsichtbar und gehören zu seinem Laboralltag. 1908 beschreibt Rutherford – sinnigerweise beim Empfang des inzwischen weltweit begehrtesten Chemiepreises dieses schwedischen Dynamitmagnaten – die radioaktiven Vorgänge als brisante Ereignisse, die ihn an Sprengstoffexplosionen erinnern: «Ein Bruchteil eines Radiumatoms wird instabil und mit explosiver Gewalt auseinandergerissen.» Und über das aus dem Radium hervorgehende Edelgas Radon: «Die Atome dieser Substanz sind wesentlich instabiler als die des Radiums und explodieren wieder …» oder gar: «… während dieser atomaren Explosion wird ein einzelnes Heliumatom herausgeschleudert» [Rut 1 ].
Die Hauptversammlung der Deutschen Bunsengesellschaft für angewandte und physikalische Chemie am
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