Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Lichtgeschwindigkeit unterwegs, bleiben aber in einem fünf Millimeter starken Aluminiumblech stecken. Dieses Hindernis ist kein Problem für die von dem Franzosen Paul Villard entdeckten Gammastrahlen. Für sie ist aber nach fünf Millimetern durch Blei Schluss.
Trotz ihrer Durchdringungsschwäche geht der größte Teil der beim radioaktiven Zerfall entstehenden Wärme auf das Konto der Alphastrahlen. Außerdem verursachen sie die Elektrisierung der Luft – Grund genug, sich genauer mit ihnen zu beschäftigen. Rutherford gelingt nun der Nachweis, dass Alphastrahlen in Wirklichkeit Heliumatome sind. Sie werden aus der radioaktiven Quelle herausgeschleudert. So verliert die radioaktive Substanz einen Teil ihrer Masse – ein Ereignis, das wiederum die chemische Umwandlung in Gang setzt. Der leichter gewordene Atombestandteil wird zum Atom einer neuen Substanz, die erneut instabil wird und weiteren chemischen Veränderungen unterliegt, die wieder von Alphastrahlen begleitet werden.
Friedrich Giesel hat mittlerweile einen neuartigen Leuchtschirm entwickelt. Er besteht aus einer kristallinischen Verbindung von Zink und Schwefel, mit einer Spur Kupfer versetzt. Diese Substanz eignet sich hervorragend, um Alphastrahlen sichtbar zu machen. Wenn Giesel in einem dunklen Raum seine Radiumpräparate dem Zinksulfidschirm nähert, leuchtet der in einem lebhaften blaugrünen Licht auf. Was bedeutet, die Alphateilchen oder Heliumatome sind angekommen. Hans Geitel und Julius Elster bauen Giesels Schirm nach und sind von den imposanten Leuchterscheinungen geblendet. Aber sie können keine Einzelheiten erkennen. Für ihre Zwecke eignet sich eine stark verdünnte radioaktive Substanz wesentlich besser. So gelingt es ihnen, die strahlende Materie außerordentlich fein auf den Schwefelzinkschirm zu projizieren. Er leuchtet so schwach, dass sie eine Lupe zu Hilfe nehmen müssen. Doch was sie dann sehen, fasziniert sie. Der Schirm ist nicht gleichmäßig erhellt, das scheinbar flächenhafte Licht strahlt unterschiedlich intensiv. Überall blitzen mit hoher Geschwindigkeit kleine Lichtpunkte auf und verschwinden sofort wieder. Elster und Geitel haben den Eindruck, als schauten sie auf «einen Nebelfleck am Himmel, der in Wirklichkeit eine Sternwolke darstellt …, wenn man ihn durch ein Fernrohr von großer durchdringender Kraft betrachtet» [Gei:15].
Nun ist es möglich, das Aufblitzen der Alphateilchen auf dem Leuchtschirm, die sogenannten Szintillationen, systematisch zu zählen. Natürlich gelingt es keinem Menschen, die Gesamtmenge aller Lichtblitze zuverlässig zu registrieren. Aber es gibt ein durchaus bewährtes Annäherungsverfahren. Der Beobachter richtet ein Mikroskop auf einen Quadratmillimeter des Schirms und zählt die innerhalb einer Stunde aufblitzenden Lichtpünktchen mehrmals mit großer Genauigkeit aus, um einen guten Durchschnittswert zu errechnen. Leidenschaftlich demonstrieren Elster und Geitel ihre eleganten und anschaulichen Szintillationen als Beweis für die Existenz von Atomen. Hatte bisher das typische Argument der Atomskeptiker gelautet, es sei noch nie ein Atom gesichtet worden, kann jetzt jeder einen Blick auf Giesels Zinksulfidschirm werfen und im Aufblitzen der Alphateilchen einzelne Heliumatome in Bewegung sehen. Atome sehen: Das ist schon eine kleine Sensation. Die von manchen Wissenschaftlern noch immer abgelehnte Atomlehre sei hiermit eindrucksvoll bestätigt worden, behauptet das Forschergespann. Aber auf der Ziellinie beim Wettlauf um die Erstveröffentlichung werden sie von dem englischen Chemiker und Physiker Sir William Crookes knapp geschlagen, der die Szintillationsmethode zeitgleich mit den beiden Deutschen entdeckt hatte.
Bald wird auch im Physikalischen Institut der Wiener Universität in der Türkenstraße ein Zinksulfidschirm aufgestellt. Nach einem einzigen erstaunten Blick auf den Schirm soll der Physiker und Philosoph Ernst Mach, verbissener Gegner der Atomidee und bekannt vor allem wegen der nach ihm benannten Kennzahl der Schallgeschwindigkeit, ergriffen gewesen sein. Aber auch Menschen mit eindeutig vorwissenschaftlichen Ansichten lassen sich von den aufblitzenden Heliumatomen erleuchten. So wird berichtet, Luigi Piavi, der Patriarch von Jerusalem, habe ebenfalls auf den Wiener Leuchtschirm geschaut und dabei ein philosophisches Grundproblem gelöst. Nun verstehe er endlich das biblische Schöpfungswort «Es werde Licht!» nicht mehr als Widerspruch zu den erst später
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