Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
geschaffenen himmlischen Leuchtkörpern Sonne, Mond und Sterne [Bra:101 f.].
Im September 1904 findet während der Weltausstellung im amerikanischen St. Louis eine Veranstaltung des International Congress of Arts and Sciences statt. Rutherford wird als Vortragsredner eingeladen. In pompösen, elektrisch beleuchteten Showpalästen können die Ausstellungsbesucher drahtlose Telegraphen, elektrische Lokomotiven und die neuesten Automobile bestaunen, darunter auch den berühmten Sportwagen von Spyker mit sagenhaften 80 Pferdestärken. Über dem Ausstellungsgelände erinnern bunte Luftschiffe mit halsbrecherischen Manövern an den historischen Motorflug der Brüder Wright vom Vorjahr, und eine ganz besondere Attraktion sind Automaten, aus denen man sich Kaugummi und Erdnüsse ziehen kann. Der größte Hit aber sind essbare Tüten aus Waffelteig für Eiskrem. Und in diesem Ambiente bedeutsamer und nichtiger Innovationen präsentiert Rutherford einer internationalen Versammlung führender Wissenschaftler und Künstler seine revolutionäre Idee des radioaktiven Zerfalls. So mancher gestandene Physiker und Chemiker hat sich bisher mit der Vorstellung von der Transformation radioaktiver Materie nicht recht anfreunden können. Die Mehrzahl der englischen Chemieprofessoren empfindet die atomare Zerfallshypothese als eine Zumutung: «Will Rutherford uns etwa weismachen, dass die Atome an der unheilbaren Zwangsvorstellung leiden, Selbstmord begehen zu müssen?», spottet ein Kollege [Cam:277].
Der 80-jährige William Thomson, besser bekannt als Lord Kelvin – eine lebende Legende, fast schon entrückt in den Wissenschaftlerolymp, sitzend zur Rechten Newtons –, führt die Gruppe der Skeptiker an. Er hat die Temperaturskala geeicht und den kältesten Punkt im Universum für immer mit seinem Namen verbunden. Und er ist überzeugt – glatte fünf Jahre hinter der Theoriediskussion herhinkend –, dass Radium seine Energie nicht selbst aus den Atomen abstrahlt, sondern aus dem Weltraum empfängt: durch Absorbierung von Ätherwellen. Der führende englische Physiker hat ausgerechnet, wie schnell sich Wärme in Gesteinen ausbreitet, hat ihre Schmelzpunkte bestimmt und ihre Wärmeeigenschaften beim Erstarren dazu in Beziehung gesetzt. Nach diesen Berechnungen dürfte die Erde nicht viel älter als ein paar Millionen Jahre alt sein. Wenn Rutherford nun die Zerfallszeit des Urans auf mehrere Milliarden Jahre beziffert, grenzt das in Lord Kelvins Universum schon an Ketzerei.
Und haben nicht Rutherford und Soddy, dieser andere Grünschnabel, ganz ungeniert die Transmutation der Elemente in die Welt hinausposaunt? Das ist die verräterische Sprache der Alchemisten. Deren Heiliger Gral soll nun ausgerechnet in einem tauben, finsteren Erz verborgen sein, das somit zum Stein der Weisen avanciert, der unedles Metall in Gold verwandeln soll. Dabei ist doch der mythische Schatz dieser neuen Alchemisten nichts weiter als ein mal kanariengelbes, mal giftgrünes Glasfärbemittel. Sollte also an der Theorie dieses 33-jährigen Draufgängers tatsächlich etwas dran sein, dann müsste man ja den Uranmineralien in gewisser Weise ein Minimum an Leben zugestehen. Womöglich als halbintelligente, taktklopfende Steine? Weise Steine? Steine der Weisen? Vielleicht ist der hochbegabte Rutherford, dieser eigensinnige Naturbursche vom anderen Ende der Welt, eben doch nichts weiter als ein gewiefter moderner Alchemist, der hier, auf der Weltausstellung, in der marktschreierischen Atmosphäre dieses typisch amerikanischen Budenzaubers, den guten Ruf der königlich-englischen Physik gerade gefährlich aufs Spiel setzt.
Lord Kelvins Furcht vor der Rückkehr alchemistischen Gedankenguts in die Labors des noch jungen 20. Jahrhunderts ist unbegründet. Rutherford und Soddy sind herausragende moderne Wissenschaftler, aber sie sind natürlich mit der Ideengeschichte der Alchemie vertraut und erkennen die auffälligen Parallelen ihrer Theorie von der Umwandlung der Elemente durch radioaktiven Zerfall zu den seltsamen Transmutationsvorstellungen der Alchemisten. Im vergangenen Sommer hatte Ernest Rutherford einen denkwürdigen Abend in Paris erlebt, als er mit seiner Frau May, den Curies und ein paar Freunden die bestandene Doktorprüfung von Marie Curie gefeiert hatte. Sie saßen draußen im Garten, und als es dunkel wurde, holte Pierre Curie ein Fläschchen mit nahezu reinem Radium aus der Jackentasche und stellte es auf den Tisch. Selbst Rutherford saß
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