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Kielwasser

Kielwasser

Titel: Kielwasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Pelte
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seiner Abwesenheit ab und zu sein Auto zu benutzen, um die Batterie am Leben zu erhalten.
    Er schloss die Haustür auf. Svenja war nicht da. Auf dem Treppenabsatz entdeckte er den dicken Einschreibebrief. Er öffnete ihn und las, er sei zu einer zweimonatigen Wehrübung einberufen und habe sich am kommenden Montag um 8 Uhr in Glücksburg/Meierwik beim Personaloffizier (PersO) zu melden. Sein Dienstgrad war mit ›Oberleutnant der Reserve‹ vorläufig angegeben. Ein Freifahrschein für die Bundesbahn war beigefügt. Meierwik ist quasi ein Vorort von Flensburg und hat überhaupt keine Bahnanbindung. Ein Retourschreiben, in dem er sein schriftliches Einverständnis erklären musste, war neben anderen Merkblättern über Arbeitnehmerrechte, Sozial- und Krankenversicherungen ebenfalls beigelegt. Die waren in erster Linie an Nichtbeamte adressiert. Für ihn als Beamten änderten sich nur der Arbeitsort, die Arbeitszeit, die Krankenversorgung und später die Arbeitskleidung. Ansonsten lief alles weiter wie bisher, auch sein Gehalt.
    Den nächsten Tag verbrachte er damit, seine persönlichen Angelegenheiten zu regeln. Viel gab es da nicht zu tun. Ein paar Arztrechnungen beglich er vorzeitig und überprüfte, ob während seiner Abwesenheit noch Verpflichtungen auflaufen würden. Er stellte fest, dass mithilfe der elektronischen Medien alles leicht und zuverlässig zu regeln war, und in dieser Hinsicht seine Abwesenheit im Normalfall, also im Ausbleiben von Katastrophen, gar nicht auffallen würde. Das beruhigte ihn.
    Koffer musste er auch nicht packen. Er nahm eine kleine Reisetasche mit, in der er Unterwäsche, eine Garnitur zivilen Outfits, seine Toilettensachen nebst Bademantel und Badelatschen und seinen Laptop verstaute. Ansonsten stellte er sich darauf ein, militärisch ausgestattet zu werden.
     
    *
     
    Seine Frau fuhr ihn am Montagmorgen nach Meierwik ins Flottenkommando. Es war der Beginn eines ruhigen Herbsttages. Der Frühnebel lag auf dem Land wie Watte. Es war windstill. Auf der Nordstraße sahen sie kaum 50 Meter weit. Während der kurzen Fahrt sprachen sie nicht miteinander, nicht nur, weil Svenja sich in dem dicken Nebel auf den Verkehr konzentrieren musste. Jung hatte sich schon zu Hause von ihr und seiner Tochter verabschiedet: ziemlich still und mit einer abschließenden, längeren Umarmung, die ihre Bedeutung auch aus der Tatsache bezog, dass es ziemlich selten vorkam, dass sie sich in die Arme nahmen.
    Jung verabscheute öffentliche Abschiedsszenen, auch wenn sie wie im Film Casablanca legendär waren. Da rannen die vergossenen Tränen über die Kameralinse und tauchten die Szene in einen schlierigen Dunst, in dem selbst Humphrey Bogart noch für eine Anti-Aging-Kosmetik hätte werben können. Alles war irgendwie falsch. Wahre Gefühle, so meinte Jung, kamen gar nicht vor. Für die dargestellte Traurigkeit bestand seiner Meinung nach überhaupt kein Anlass. Die Beteiligten hatten eigentlich jeden Grund, erleichtert zu sein und sich zu freuen. Stattdessen versanken sie in Sentimentalitäten.
    Vielleicht war Jungs Skepsis eine Lehre aus dem Zusammenleben mit seiner Großmutter. Sie hatte Casablanca nie gesehen. Der Film kam aus Amerika, und es ging da irgendwie um Nazis und um Juden. Das hatte ihr gereicht, ihn zu ignorieren. Stattdessen hörte sie lieber Serge Jaroff und seine Donkosaken. Sie löste sich nahezu auf, wenn sie die Ballade von den zwölf Räubern anstimmten – oder hieß es Legende von den zwölf Räubern? Sie verbot sich jedes Geräusch und verdrehte die Augen, wenn Catarina Valente meinte: ›Ganz Paris träumt von der Liebe‹.
    Das war die gleiche Frau, die am nächsten Tag den Rohrstock auf ihre Enkel niedersausen ließ. Der Anlass war nichtig und keinem der Geschwister oder ihm selbst bewusst und eindeutig zuzuordnen gewesen. Auch später waren Jung die Gründe für die Strafaktion nie klar geworden, selbst als er sich intensiv daran zu erinnern versuchte. Im geschwisterlichen Kollektiv hatten sie die Züchtigung über sich ergehen lassen. Wo waren eigentlich Vater und Mutter gewesen, fragte er sich später. Nur seine kleine Schwester – damals zwischen fünf bis sechs Jahre alt – wurde von der Großmutter verschont. Immerhin etwas.
     
    *
     
    Vor dem Rollgatter, das den Zutritt zur Kasernenanlage versperrte, hielten sie an. Sie stiegen aus und Jung nahm seine Reisetasche aus dem Kofferraum. Sie umarmten sich noch einmal kurz. Svenja wünschte ihm viel Glück und alles Gute. Dann

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