Kielwasser
setzte sie sich hinter das Steuer, wendete und verschwand im Nebel auf der von Wald gesäumten Zufahrtsstraße, die in einer weiten Rechtskurve auf die Fördestraße zwischen Glücksburg und Flensburg mündete.
*
Svenja war in Gedanken versunken und steuerte den Wagen mit dem sicheren, instinktiven Automatismus, der aus jahrelanger Praxis resultierte. Liebte sie ihren Mann eigentlich? Machte es ihr etwas aus, ihn in den Armen des Militärs zu wissen und nach Afrika entschwinden zu sehen? War es ihr egal, was er tat und was ihm widerfuhr? Nein, so klar war das alles nicht zu benennen. Sie mochte sich die Fragen gar nicht stellen, weil sie einfach zu nichts führten, was sie irgendwie weiterbrachte. Es war so, wie es war. Dabei war alles anders gewesen, als sie ihn vor langer Zeit – sie war gerade 22 Jahre alt geworden – kennengelernt hatte.
Er war groß und schlank gewesen, kein Athlet, aber gut gebaut, mit vollem, welligem Haar, hatte lebhafte Augen mit einem Hauch von Traurigkeit und ein markantes, ernstes Gesicht. Er hatte Abitur und ein abgeschlossenes Universitätsstudium hinter sich, war intelligent und gebildet. Sein Titel und seine – wie sie glaubte – potenzielle Zugehörigkeit zur Polizeiführung imponierten ihr. Für sie hatte er Anteil an einer Macht, der von Rechts wegen erlaubt war, sich gegen Widerstände durchzusetzen, und die links und rechts zur Seite schieben durfte, was gewöhnlichen Sterblichen verwehrt blieb. Tomas – der Name gefiel ihr besonders gut, schon ihr allererster Freund hatte so geheißen – hatte sie entdeckt und sich ihr zugewandt. Dabei war er zugänglich und offen gewesen, voller Energie und Enthusiasmus: Eigenschaften, die er auch für seinen Beruf aufbrachte. Sie hatte zwar nie ganz begriffen, woran er sie da verschwendete, aber seine Begeisterung und Unbekümmertheit, die an Naivität grenzten, hatten sie angesteckt und gefangen genommen. Sie wollte daran teilhaben, ihn unterstützen, ihm, wenn es nötig war, den Rücken freihalten. In seinem Kielwasser fühlte sie sich einfach gut aufgehoben. Er kam ihrer schmerzlichen Sehnsucht nach Aufmerksamkeit, Sicherheit, Bedeutung und Fortkommen entgegen. Für all das liebte sie ihn und dafür gab sie sich ihm hin.
Irgendwann, nachdem sie schon einige Zeit verheiratet waren und die ersten Enttäuschungen hinter ihnen lagen, fand sie den Mut, ihm ihr Schutzbedürfnis unzweideutig und rückhaltlos zu gestehen. Er reagierte erschrocken, fast panisch: »Ich will dein Mann sein und nicht dein Zuhälter.« Seitdem hatten sich ihre Vorstellungen über die Natur ihrer Ehe gewandelt.
Fortan kümmerte sie sich in erster Linie um sich selbst und um die gemeinsamen Kinder. Es war gut so, wie es jetzt war. Aber sie empfand immer deutlicher, dass ihr etwas fehlte, worauf sie nicht verzichten konnte und auch nicht wollte.
In der Innenstadt angekommen parkte Svenja ihr Auto in der Speicherlinie und machte sich auf den Weg zu einer Bekannten, die einen Secondhandladen betrieb. Ihr überließ sie öfter ausgemusterte Kleidung, die diese mit Erfolg verkaufte.
*
Jung legte der Wache seinen Einberufungsbescheid vor. Sie beschrieb ihm den Weg zum PersO und ließ ihn passieren. Seine Reisetasche in der Hand ging er die 100 Schritte bis zum Stabsgebäude, vorbei an den schlapp und leblos im Nebel an ihren Masten klebenden Flaggen der NATO und des Bundes. Das Stabsgebäude war mit rotem Backstein verblendet und stammte unübersehbar aus vorrepublikanischen Tagen, wenn auch alle Ornamentik dieser Zeit mit ihr versunken war. Er stieß die Flügeltür am Eingang auf und sah geradeaus auf eine schwere Schiffsglocke, die an der Stirnwand des Treppenhauses in ihrer Halterung hing. In der geräumigen, im Dämmer liegenden Eingangshalle war links ein riesiges Seegemälde in Öl zu sehen, das den legendären, aber nutzlosen Sieg der kaiserlich-deutschen Marine über die englische Flotte verewigte. Daneben war unter Glas ein gesticktes Fahnentuch der Kaiserlichen Marine zu bewundern. An der Wand gegenüber hingen großformatige Fotografien moderner Kriegsschiffe. In der Halle, auf den Treppenabsätzen und Fluren standen Glasvitrinen, in denen Modelle von Schiffen ausgestellt waren, die seit der Gründung der Bundesmarine in Dienst gestellt worden waren.
Jung stieg in den ersten Stock, wandte sich in den linken Geschossflügel, fand die Tür zum Büro des PersOs und klopfte an.
»Herein«, schallte es laut durch die Tür.
Jung
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