Kielwasser
war amüsiert, den Leitenden so leutselig vorzufinden, und gleichzeitig abgestoßen von dessen Verhalten. Er war zu spät im Dienst. Das war in der Regel für Holtgreve Anlass, ungehalten und streng zu sein. Dass er jetzt kleine Brötchen buk, bewies nur, dass er ein dringendes Problem hatte, von dem er glaubte, es nur mithilfe des Delinquenten aus der Welt zu schaffen. Holtgreves Verhalten widerte Jung an, als es ihm bewusst wurde. Gleichzeitig merkte er, dass es ihn auch beruhigte. Ein gewisses Überlegenheitsgefühl bemächtigte sich seiner. Er konnte sich aber nicht darüber freuen. Holtgreve gab eher Anlass zu Mitleid.
»Jung, ich habe da eine Sache, die ich mit Ihnen besprechen muss«, begann der Leitende, sogleich auf Jung einzureden. Er setzte sich in seinen Bürosessel und wies ihm mit einer einladenden Gebärde den Stuhl vor seinem Schreibtisch zu. »Wie Sie vielleicht schon gehört haben, hat Kiel ein Programm zur Fortbildung der Beamten des Höheren Dienstes ins Auge gefasst.« Natürlich hatte Jung noch nichts davon gehört. »Der Präsident hat mit mir in den letzten Tagen ausführlich darüber diskutiert«, fuhr der Leitende fort. »Wir beide haben sofort an Sie gedacht, als es darum ging, den Ersten auszusuchen, der in den Genuss des neuen Programms kommen sollte.«
Holtgreve machte eine Pause und sah Jung bedeutsam in die Augen. Jung schwieg. Er hatte der langen, wohlgesetzten und dennoch albernen Rede des Leitenden aufmerksam gelauscht. Dessen Stärken waren eher abgehackte Sätze im Telegrammstil, kurze Statements oder Fünf-Worte-Anweisungen. Jung genoss die Verlegenheit, in der sich Holtgreve offensichtlich befand. Er wollte ihn nicht vorzeitig daraus entlassen, indem er freundliches Interesse zeigte oder ihm entgegenkam.
»Sie werden sicherlich wissen wollen, warum wir gerade auf Sie kamen«, fuhr der Leitende fort.
Ja, das wollte Jung zu gern wissen. Er freute sich schon auf Holtgreves weitere Einlassungen. Deshalb schwieg er.
»Ich will es Ihnen sagen«, ergriff der Leitende wieder das Wort, sichtlich enttäuscht von Jungs Zurückhaltung. »Der Präsident war von Ihrer Arbeit an dem Giftmordfall auf Sylt und der Aufklärung des Verschwindens der beiden vermissten Frauen sehr angetan. Er meinte, Sie seien ein guter Vertreter unseres Dienstes, der es verdient habe, eine Auszeichnung zu erhalten. Ich habe mich seinem Urteil voll angeschlossen.«
Jung konnte nur schwer an sich halten, nicht lauthals loszulachen. Der Geist, der aus Holtgreves Rede zu ihm herüberschwappte, nahm ihm fast den Atem. Glaubte Holtgreve eigentlich selbst an das, was er da erzählte? Jung schwieg noch immer.
»Aber nun zur eigentlichen Sache«, nahm Holtgreve mit einiger Anstrengung seine Rede wieder auf. »Wir haben gemeinsam beschlossen, unsere Beamten im Umgang mit den Medien zu schulen. Deshalb haben wir vorgesehen, Sie, Jung, für einige Wochen in das Presse- und Informationszentrum des Marineflottenkommandos zu geben. Sie werden den Vorzug haben, im Rahmen einer Wehrübung voll in den Betrieb dort integriert sein zu können, was den Lerneffekt natürlich enorm erhöht. Sie haben gedient, wenn ich mich recht erinnere.«
»Ja, aber beim Heer.«
»Das macht nichts, wie dem Präsidenten von höherer Stelle signalisiert wurde. Sie werden natürlich Offiziersstatus erhalten. Das wurde dem Präsidenten zugesichert und entspricht im Übrigen ja auch Ihrem Rang als Kriminalrat. Ihre Freiwilligkeit wird aber als unabdingbare Voraussetzung für diese Aktion benötigt. An Ihrer Stelle würde ich diese Auszeichnung nicht vorbeigehen lassen. Sie macht sich in Ihrer Personalakte sicherlich gut.«
Jetzt war die Katze aus dem Sack. Holtgreve kauerte hinter seinem Schreibtisch und musterte Jung gespannt. Dieser schwieg beharrlich.
»Ich muss darüber eine Nacht schlafen und mit meiner Frau sprechen. Das werden Sie verstehen«, ließ Jung sich nach einiger Zeit vernehmen und befreite den Leitenden vorerst von seinem ärgsten Leiden.
»Selbstverständlich, das ist ja klar. Ihre Frau muss das wissen. Nehmen Sie sich für heute frei und vergessen Sie nicht, ihr zu sagen, dass es für Ihre Karriere wichtig ist, ja?«
Seine Karriere war schon längst im Eimer, dachte Jung bitter. Er erhob sich von seinem Stuhl, auf den Holtgreve von seinem erhöhten Schreibtischsessel aus herabgesehen hatte, wie die Richter in alten Gerichtssälen.
Er ließ den Leitenden in einem ängstlichen Schwebezustand zurück. Jung konnte nicht
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