Kind 44
Leo die Waffe, er zielte auf den Punkt genau über der Brille seines Bruders. Der Raum war klein, und zwischen dem Pistolenlauf und der Stirn seines Bruders lagen kaum 30 Zentimeter.
Jemand schrie: »Was macht ihr da?«
Es war Nadja, sie stand am Fuß der Treppe. Raisa flüsterte: » Leo, wir haben nicht mehr viel Zeit.« Aber Leo konnte nicht.
Andrej sagte: »Bruder, ich will, dass du es tust.«
Raisa streckte den Arm aus und legte ihre Hand um Leos. Gemeinsam zogen sie ab. Die Waffe ging los und schlug zurück. Andrejs Kopf wurde nach hinten geschleudert. Er fiel zu Boden.
Kaum hatten sie den Schuss gehört, stürmten bewaffnete Beamte das Haus und liefen die Treppe hinunter.
Raisa und Leo ließen die Waffe fallen. Der Befehlshabende starrte auf Wassilis Leiche hinab. Leo ergriff das Wort, seine Hand zitterte. Er zeigte auf Andrej. Seinen kleinen Bruder.
»Dieser Mann war ein Mörder. Ihr Vorgesetzter ist bei dem Versuch gestorben, ihn festzunehmen.«
Leo nahm den Koffer hoch. Ohne zu wissen, ob sein Verdacht sich bestätigen würde, öffnete er ihn. Er fand einen in Papier gewickelten Glasbehälter. Er schraubte den Deckel ab und schüttete den Inhalt auf den Tisch, über die Karten. Es war der Magen vom letzten Opfer seines Bruders, eingeschlagen in eine ›Prawda‹. Kaum hörbar fügte Leo hinzu: »Wassili ist als Held gestorben.«
Er trat zurück, die Beamten scharten sich um den Tisch und nahmen die grauenvolle Entdeckung in Augenschein.
Nadja starrte ihn an. Sie hatte den Zorn ihres Vaters in den Augen.
Moskau
18. Juli
In genau demselben Büro, wo er sich geweigert hatte, seine Frau zu denunzieren, stand Leo nun Generalmajor Gratschew gegenüber. Er kannte ihn nicht und hatte auch noch nie von ihm gehört. Aber es überraschte ihn nicht, dass es an der Führungsspitze einen Wechsel gegeben hatte. Niemand hielt sich nach einem Machtwechsel lange in der Führungsriege der Staats sicherheit, und seit Leo das letzte Mal hier gestanden hatte, waren schon vier Monate vergangen. Diesmal würde man sie nicht nur ohne großes Aufsehen mit Exil bestrafen oder sie schlimmstenfalls in einen Gulag schicken. Die Hinrichtung würde gleich hier stattfinden, und zwar noch heute.
Generalmajor Gratschew ergriff das Wort. »Ihr früherer Vorgesetzter war Generalmajor Kuzmin, er wurde noch von Beria eingesetzt. Mittlerweile sind beide verhaftet.
Ihr Fall ist damit mir übertragen worden.«
Vor ihm lag die zerfledderte Akte, die man in Wualsk konfisziert hatte. Gratschew blätterte die Seiten durch, studierte die Fotos, die Geständnisse, die Gerichtsakten.
»In diesem Keller haben wir die Überreste von drei Mägen gefunden, von denen zwei gebraten worden waren. Sie alle stammen von Kindern, allerdings wissen wir immer noch nicht, wer die Opfer gewesen sein könnten. Andrej Sidorow war ein Mörder. Ich habe mir seine Akte angesehen. Offenbar hat er mit den Nazis kollaboriert und wurde nach dem Krieg aus Versehen wieder in unsere Gesellschaft integriert, statt dass man ihm den Prozess machte. Das war ein unverzeihlicher Fehler von uns. Er war ein Agent der Nazis. Die haben ihn dann wieder zurückgeschickt und ihm befohlen, für unseren Sieg gegen die Faschisten Rache zu üben. Und diese Rache äußerte sich in den schrecklichen Übergriffen auf unsere Kinder. Ihr eigentliches Ziel aber war die Zukunft des Kommunismus. Das ging einher mit einer Propagandakampagne. Sie wollen unser Volk glauben machen, dass unsere Gesellschaft ein solches Scheusal hervorbringen könne. Dabei ist der Mann im Westen umerzogen und korrumpiert worden. Die Zeit, die er nicht zu Hause verbrachte, hat ihn verändert, und dann ist er mit einem vergifteten, fremden Herzen zurückgekehrt. Mir ist aufgefallen, dass keiner dieser Morde vor dem Großen Vaterländischen Krieg stattgefunden hat.«
Gratschew hielt inne und musterte Leo. »War das nicht auch Ihr Eindruck?«
»Genau das ist mir in den Sinn gekommen.«
Gratschew reichte ihm die Hand. »Sie haben Ihrem Land einen außergewöhnlichen Dienst erwiesen. Ich bin angewiesen worden, Ihnen eine Beförderung anzubieten. Eine höhere Position in den Organen der Staatssicherheit, und die führt üblicherweise unweigerlich in die Politik, sollten Sie danach streben. Es sind neue Zeiten angebrochen, Leo. Unser Generalsekretär Chruschtschow sieht die Probleme, auf die Sie bei Ihren Ermittlungen gestoßen sind, als Teil der unverzeihlichen Exzesse während der stalinistischen Herrschaft an. Ihre
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