Kind 44
die Kleine ?
»Wo ist mein Mann?«
»Unten.«
»Ich will ihm nur schnell sagen, dass ich da bin.« Raisa ging zur Tür und hielt nun das Messer vor sich, damit Nadja die Klinge nicht sah. Sie drückte die Tür auf.
Langsam schlich Raisa die Treppe hinunter. Von unten hörte sie, wie sich Leute in ruhigem Ton unterhielten.
Sie hielt das Messer ausgestreckt vor sich, es zitterte in ihrer Hand. Je länger sie wartete, bis sie den Mann tötete, desto schwieriger würde es werden. Vom Fuß der Treppe sah sie ihren Mann. Er spielte Karten.
***
Wassili befahl seinen Männern, das Haus zu umstellen.
Hier würde keiner mehr rauskommen. Alles in allem hatte er fünfzehn Mann dabei, viele davon aus Rostow, und die konnte er nicht einschätzen. Nicht dass die am Ende alles nach Vorschrift machten und Leo und Raisa verhafteten. Wassili würde die Sache selbst in die Hand nehmen müssen. Er würde die Angelegenheit hier zu Ende bringen und sicherstellen, dass alle Hinweise auf irgendwelche mildernden Umstände vernichtet wurden. Mit gezückter Waffe ging er los. Zwei seiner Moskauer Leute setzten sich ebenfalls in Bewegung. Er gab ihnen Zeichen, auf ihrem Platz zu bleiben. »Gebt mir fünf Minuten. Und kommt erst rein, wenn ich euch rufe. Ist das klar? Wenn ich in fünf Minuten nicht zurück bin, stürmt ihr das Haus und bringt alle um.«
***
Raisa hielt das Messer ausgestreckt in ihrer zitternden Hand. Sie konnte es einfach nicht. Sie konnte diesen Menschen nicht töten. Er spielte mit ihrem Mann Karten.
Leo kam auf sie zu. »Ich erledige das.«
»Warum spielst du Karten mit ihm?«
»Weil er mein Bruder ist.«
Oben schrie ein Mädchen auf. Dann wurde gebrüllt, die Stimme eines Mannes. Bevor irgend jemand reagieren konnte, war Wassili schon mit gezückter Waffe am Fuß der Treppe. Er musterte die Szene. Auch er konnte sich auf das Kartenspiel auf dem Tisch offensichtlich keinen Reim machen.
»Für eine Partie Karten bist du aber ziemlich weit gereist. Und ich dachte, du wolltest den sogenannten Kindermörder fangen. Oder gehört das zu deinen modernen Verhörmethoden?«
Leo hatte zu lange gezögert. Jetzt gab es keine Möglichkeit mehr, Andrej zu töten. Wenn er eine plötzliche Bewegung machte, würde er erschossen und Andrej bliebe ein freier Mann. Auch wenn das erklärte Ziel seines Bruders, ihr Wiedersehen, erreicht war, glaubte Leo nicht, dass Andrej mit dem Morden würde aufhören können. Leo hatte versagt. Er hatte geredet, statt zu handeln. Er hatte aus dem Auge verloren, dass viel mehr Leute ihn selbst tot sehen wollten als seinen Bruder.
»Wassili, du musst mir zuhören.«
»Auf die Knie!«
»Bitte.«
Wassili spannte den Abzug.
Leo ging auf die Knie. Jetzt konnte er nur noch gehorchen, betteln, flehen. Nur leider war genau dieser Mann einer, der ihm nicht zuhören würde, der sich um nichts scherte außer um seinen persönlichen Rachefeldzug.
»Wassili, es ist wichtig.«
Wassili hielt ihm die Waffe an den Kopf.
»Raisa, knien Sie sich neben Ihren Mann! Sofort!«
Raisa kniete sich neben ihren Mann. Die Waffe wanderte hinter ihren Kopf. Raisa nahm Leos Hand und schloss die Augen. Leo schrie: »Nein!«
Als Antwort tippte Wassili mit dem Lauf gegen Raisas Kopf und feixte: »Leo ...«
Seine Stimme verlor sich. Raisas Griff um Leos Hand wurde fester. Sekunden vergingen. Kein Laut war zu hören. Ganz langsam wandte Leo den Kopf.
Die gezackte Klinge war in Wassilis Rücken eingedrungen und am Bauch wieder ausgetreten. Andrej stand mit dem Messer in der Hand da. Er hatte seinem Bruder das Leben gerettet. Ganz ruhig hatte er das Messer genommen und den Mann schnell und sauber abgestochen. Gekonnt. Andrej war glücklich, so wie damals, als sie zusammen die Katze gejagt hatten. So glücklich wie an diesem Tag war er sein ganzes Leben nicht mehr gewesen.
Leo stand auf und entwand Andrej die Waffe. Aus Wassilis Mundwinkeln lief Blut. Er lebte noch, aber jetzt sahen seine Augen nicht mehr berechnend aus.
Dieser Mann würde nichts mehr aushecken. Wassili hob eine Hand und legte sie auf Leos Schulter, beinahe als wolle er sich von einem Freund verabschieden.
Dann brach er zusammen. Der Mann, dessen ganze Existenz darauf ausgerichtet gewesen war, Leo nachzustellen, war tot. Aber Leo verspürte weder Erleichterung noch Befriedigung. Er konnte an nichts denken als an die Aufgabe, die ihm noch bevorstand.
Raisa stand auf und stellte sich neben Leo. Andrej blieb, wo er war. Keiner rührte sich. Langsam hob
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