Kind der Nacht
zurückverfolgen lassen.«
Karl stand auf, am ganzen Körper angespannt. »Komm mit!«, sagte er. Damit ging er aus dem Zimmer, und Gerlinde folgte ihm mit schuldbewusstem Blick. Sie wirkte nervös.
Carol setzte sich. Sie war beunruhigt. Das sah Rene so gar nicht ähnlich. Der Anruf war ziemlich merkwürdig. Dazu noch zu diesem Zeitpunkt. Nun hatte Carol Gerlinde in Schwierigkeiten gebracht - und sich selbst ebenfalls. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Mit einem Mal blickte sie auf. Jeanette starrte sie an, und ihr war, als müsse sie etwas sagen: »Rene ist vollkommen harmlos. Ich werde sie bald zurückrufen, damit sie weiß, dass wirklich alles in Ordnung ist.«
»Sie werden die Nummer ändern und umziehen müssen«, sagte Jeanette. »Wahrscheinlich sogar weg aus Montreal. Das bringt jeden von uns in Gefahr.«
Darauf wusste Carol nichts zu erwidern.
Gegen fünf Uhr morgens ging Carol in die Küche, um sich etwas zu essen zu machen, ein kleines T-Bone-Steak mit naturbelassenem Reis, Rosenkohl und Karotten. Sie war gerade damit fertig und wollte sich eine Tasse Kräutertee einschenken, als André in der Tür zum Keller erschien. Er sah schrecklich aus, jeder Muskel war angespannt, und er schien sich nur mühsam zu beherrschen.
»André, kann ich mit dir reden?« Er hielt inne und starrte sie an. Etwas in seinem Gesicht sagte ihr, dass es jetzt besser war, vorsichtig zu sein, und sie bereute bereits, ihn aufgehalten zu haben.
»Ich ... ich wollte dir nur sagen, dass es mir gut gefällt, wie du mit Michael umgehst. Man sieht, dass er dir etwas bedeutet.«
Er erwiderte nichts, sondern starrte sie nur weiterhin an. Sie ließ sich auf einem Barhocker ihm gegenüber auf der anderen Seite der Arbeitsplatte nieder und nippte an ihrem Tee. Er war zu heiß, und sie verbrannte sich die Oberlippe daran, was ihr ins Bewusstsein rief, wie nervös er sie machte.
»Du hast unsere Adresse weitergegeben.«
»Es ... es tut mir Leid. Sie ist meine Therapeutin. Sie machte sich Sorgen. Gerlinde ließ mich das Telefon benutzen, damit ich ihr Bescheid geben konnte, dass alles in Ordnung ist und ...«
»Und du hast Michel diesen Floh ins Ohr gesetzt!«
Das traf sie so unvorbereitet, dass sie ihm zunächst nicht zu antworten vermochte. Sie verschüttete etwas Tee, als sie die Tasse absetzte. »Nein. Wie kommst du denn darauf?«
»Wo soll er es denn sonst herhaben?«
»Aber du oder einer der anderen war doch immer dabei. Wie hätte ich das denn tun sollen? Ich war es nicht, das musst du mir glauben!«
»Warum sollte ich?« Er wirkte wütend, und der plötzliche Umschwung seiner Gefühle ihr gegenüber erschreckte sie.
»Warum nicht?«, erwiderte sie leise.
»Machst du Witze? Soll ich dir vielleicht eine Liste machen?« Er trat zwei Schritte auf die Arbeitsplatte zu und packte deren Kante, so fest, dass seine Knöchel weiß wurden. In Carols Hinterkopf schrillte eine Alarmglocke. »Erst wolltest du mich durch den Virus umbringen, und dann hast du versucht, mir einen Pflock ins Herz zu rammen!«
»Das wollte ich nicht. Ich habe dir doch gesagt...«
»Und du bist weggelaufen - zweimal! Und hast Michel entführt. Und jetzt hast du uns auch noch verraten, sodass jeder Fremde uns ausfindig machen kann. Außerdem hast du Michel mit Milch gefüttert, als er geboren wurde. Und jetzt weiß er nicht, wie er sich entscheiden ...«
»Da verwechselst du etwas. Du wirst doch sicher verstehen, weshalb...«
»Ja, ich verstehe sehr wohl! Jetzt sehe ich deutlich, was für eine Lügnerin du bist!«
Er hob die Stimme, sein Gesicht war bleich. Irgendwie schien er sich zu verändern, auf einmal wirkte er weniger wie ein Mensch, eher wie ein Tier, und Carol bekam es mit der Angst zu tun. »André, so beruhige dich doch, du wirst...«
Unvermittelt schoss sein Arm vor und wischte Teekanne, Tasse und Untertasse quer über die Platte, sodass sie zu Boden fielen und auf den Fliesen zerschellten. »Mach mir bloß keine Vorschriften, du Schlampe!«
Carol stand stocksteif da, vor Angst bebend. Sie wich ein paar Schritte zurück. Er nahm den Hocker, auf dem sie gesessen hatte, und schleuderte ihn durch die Küche. Er knallte gegen die Wand und zerbrach.
»André!« Er wirbelte zur Tür herum. Dort stand Jeanette. »Sie sind bereit!«, sagte sie.
Er stürmte an ihr vorbei aus der Küche.
Carol fing an zu zittern. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper und blickte Jeanette an. »Er ist vollkommen
Weitere Kostenlose Bücher