Kind der Nacht
durchgedreht. Er wird mich noch umbringen.«
Jeanette kam zu ihr und legte ihr den Arm um die Schulter. »Du musst dich auch wehren, Carol.«
»Aber klar doch!« Die Tränen traten ihr in die Augen. »Das sagt sich so leicht. Aber er ist doch viel stärker als ich. Er macht mich doch mit links fertig!«
Jeanette lächelte schwach. »Wenn du erst deine Verwandlung hinter dir hast, wirst du ihm physisch eher gewachsen sein, und in anderer Hinsicht ebenfalls.«
»So weit wird es nie kommen. Ich werde tot sein, weil dieser Irre Hackfleisch aus mir macht.«
»Du brauchst es nicht körperlich mit ihm aufzunehmen. Versuche, in dich zu hören, und reagiere entsprechend.«
»Aber er ist immer schon so gewesen. Wenn ich dazu ansetze, irgendetwas Vernünftiges zu sagen, will er mir wehtun.«
»Nun, das kann er so oder so tun. Das ist kein Grund, nicht den Mund aufzumachen.«
»Na klar, ganz gleich, was ich tue, er bricht mir den Hals. Entweder fühle ich mich, wenn ich sterbe, wie ein Fußabtreter, oder aber ich habe die Genugtuung, als Märtyrerin dahinzuscheiden.«
Carol begann die Scherben der zerbrochenen Teekanne aufzusammeln, doch Jeanette fiel ihr in den Arm. »Wir werden später aufräumen. Gehen wir ins Wohnzimmer.«
Morianna saß auf der Couch zwischen Julien und Chloe. Stocksteif saß André ihnen in einem Sessel auf der anderen Seite des Tisches gegenüber. Vor dem Kamin hatte Gerlinde es sich dicht neben Karl auf einem Zweisitzer gemütlich gemacht. Auf ihrer anderen Seite hielt sie Michael im Arm. Jeanette und Carol setzten sich auf das andere Zweiersofa.
»Ich werde Englisch sprechen«, begann Morianna, »weil jeder von uns diese Sprache versteht.« Sie sah André an. »In fünf Nächten haben wir Silvester. Vor zehn Jahren, am Neujahrstag, wurde Michel geboren. An diesem Tag muss er eine Entscheidung treffen, die den weiteren Verlauf seines Lebens bestimmt. Der Mond wird voll sein, allem Anschein nach eine günstige Zeit. Angesichts der jüngsten Entwicklungen - möglicherweise seid ihr hier nicht mehr sicher - denke ich, wir sollten so schnell wie möglich handeln. Wir drei« - dabei blickte sie erst Julien, dann Chloe an - »sind der Meinung, dass es in diesem Fall am besten ist, das Blut aus einer Haltung der Ehrfurcht heraus zu geben und zu empfangen.«
Carol entging nicht, dass André die Kiefer aufeinander presste. »Wie das Ritual im Einzelnen aussieht, erfährst du, wenn es so weit ist. Für den Augenblick genügt es, wenn du weißt, dass du am Freitag noch einmal aus dem Haus gehen wirst, um dich mit Nahrung zu versorgen. Danach wirst du nichts mehr zu dir nehmen, bis das Ritual vollzogen ist. Es beginnt am Freitag um Mitternacht. Während seiner gesamten Dauer wirst du der Frau dein Blut geben, so lange, bis du völlig entleert bist. Am Sonntag um Mitternacht, wenn das alte Jahr endet und das neue beginnt, darfst du dann dein Blut von ihr zurückfordern.«
André sprang auf. Er wirkte völlig entsetzt. »Drei Tage? Ihr erwartet von mir, dass ich es drei Tage ohne Blut aushalte?«
»Es ist nicht so schwer, wie du glaubst«, sagte Morianna.
»Es wird nicht wie bei den anderen Malen sein, André«, fügte Chloe hinzu. »Wir haben alles für dich arrangiert.«
André blickte erst sie, dann Morianna und schließlich Julien an. Sein Gesicht sagte alles - sie hatten ihn hintergangen. »Vergesst es!«
Damit wandte er sich um und ging mit großen Schritten auf die Tür zu, doch Julien war schneller. »Va t’en!«, brüllte André ihn an. Aber Julien ging ihm nicht aus dem Weg, er sagte lediglich ganz ruhig etwas auf Französisch. André hielt mit lauter Stimme voll erbitterter Wut dagegen, die Hände zu Fäusten geballt. Doch der Tatsache zum Trotz, dass Andrés Zorn immer weiter wuchs, ließ Julien nicht locker. Zu guter Letzt stieß André seine Faust - so schnell, dass Carol kaum zu folgen vermochte - durch die massive Eichentür direkt neben Juliens Kopf. Seine Hand blutete, als er sie aus dem zertrümmerten Holz zog.
Sein Zorn war verflogen. Seine Schultern sackten herab und er bebte am ganzen Körper. Mit seiner unverletzten Hand fuhr er sich durchs Haar. Julien redete weiter, als wäre nichts gewesen, leise, vernünftig, wie ein Vater, der seinem enttäuschten Sohn etwas erklärt. Er legte André die Hände auf die Wangen. Andrés Finger, über die das Blut lief, schlossen sich zögernd um Juliens Handgelenke. Julien redete
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