Kind der Nacht
Jungfrau Kore begegnen, jung, unschuldig und aufrichtig. Und er sollte ihr Liebhaber sein, ihr Mann für alle Zeit. Er würde ihr sein Blut geben und später, am Sonntag, das ihre nehmen, so wie ein Mann eine Frau zum ersten Mal nimmt, vollständig und ohne Vorbehalt, >Ekstase<, wie Morianna es genannt hatte. Carol hatte noch nie etwas in einem derartigen Licht betrachtet, aber die Symbolik ließ sie ahnen, dass es bei dieser Erfahrung um weit Größeres ging als ihre Existenz oder um das, was sie ausmachte. Hier ist etwas Heiliges, ja Magisches im Spiel, dachte sie.
Morianna stellte ihr eine kleine irdene Schale hin, in der sich sechs Granatapfelkerne befanden. »Nimm und iss!« Carol nahm sie einen nach dem anderen heraus und schob sie sich auf die Zunge. Sie biss in die bittersüße Frucht und kaute auf den harten Kernen herum. Nachdem sie alle sechs verzehrt hatte, sagte Morianna: »Und nun ist es an der Zeit, von André zu empfangen.«
Mit einem Mal war es aus mit allem, was sie sich vorgestellt hatte. Carol bekam es mit der Angst zu tun. Sie hatten ihr gesagt, was sie machen musste, und bis zu diesem Moment
hatte sie auch geglaubt, dass sie es tun könne.
»Empfange!«, forderte Morianna sie auf.
Carol erhob sich. Sie war ganz wacklig auf den Beinen, teils aus Angst, zum Teil aber auch, weil sie so lange in ein und derselben Position gekniet hatte. Sie wandte sich André zu. Er hatte sich nicht bewegt, seit sie den Raum betreten hatte. Ihr kam es vor, als sei dies vor Tagen geschehen. Rene saß dicht bei ihm, zu dicht.
Als Carol auf André zuging, heftete er den Blick auf sie, und seine strahlend grauen Augen wichen nicht einen Sekundenbruchteil von ihr. Als sie vor ihm stand, kniete sie nieder. Sie versuchte sich einzureden, dass sie überhaupt keine Angst vor ihm habe, aus Angst, ihm ihre Furcht zu zeigen. Doch sie merkte bereits, dass er es in ihren Augen sah. Und sie wurde auch seiner Reaktion gewahr - sie spürte, wie er innerlich kochte und seine Wut immer weiter anstieg.
Nun, wo Rene da war, fühlte Carol sich auf unbestimmte Weise unter Druck gesetzt. Es war, als überwachte sie jede ihrer Bewegungen. Die anderen beobachteten sie zwar ebenso intensiv; dennoch hatte sie bei ihnen nicht ständig das Gefühl, sich anstrengen zu müssen, um ja alles >richtig< zu machen. Rene verfolgte minutiös jeden ihrer Schritte, jede Geste, und dies erschütterte Carols Selbstvertrauen, obwohl sie nicht zu sagen vermochte, weshalb.
Andrés Brust war von geronnenem Blut bedeckt, das aus der Wunde an seinem Hals getröpfelt war, an die die anderen ihre Lippen gelegt hatten. Mit einem Fingernagel öffnete er die Wunde erneut. Rene stockte der Atem. Blut, so dunkel, dass es beinahe schwarz war, hinterließ neue Spuren zwischen den dunklen Haaren auf seiner Brust, rann ihm über den Bauch bis in die Schamhaare. Eine makabre Faszination ergriff von Carol Besitz, vermengte sich mit der Angst, die sie ohnehin schon in ihrem Bann hatte, und mit einem Mal war Carol nicht mehr fähig zu tun, was sie tun musste.
»Carol!«, sagte Rene. »Wenn Sie das nicht tun möchten ...«
»Ruhe!«, befahl Julien mit einer dröhnenden Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Rene verstummte. Carol fing an zu zittern.
Die Sekunden verstrichen. Sie hatte Angst, in Andrés Gesicht zu blicken. Angst vor dem, was sie darin sehen würde. Seine Hand glitt langsam empor, auf ihren Kopf zu. Er wird mich zwingen, es zu trinken!, dachte sie. Plötzlich hörte sie Moriannas kräftige, glockenhelle Stimme: »Lass dich nicht berühren!«
Prompt erinnerte Carol sich der Folgen, die ihr drohten. Ohne sich weiter zu besinnen, beugte sie sich über den roten Strom, der aus ihm herausquoll, öffnete die Lippen und trank. Es war kühl und zähflüssig. Salzig. Als das Blut sich ein bisschen erwärmte, bekam es einen kupfrigen, süßen Geschmack. Erdig. Vertraut und doch so fremd. Carol
bemühte sich, an nichts zu denken. Sie hielt den Atem an und nahm mehrere Mund voll von dem Blut, das ihr mit erstaunlicher Leichtigkeit durch die Kehle lief.
Doch dann verschluckte sie sich, bekam etwas Blut in die Lunge und keine Luft mehr. Hustend und würgend ließ sie von ihm ab. Sie prustete Blut, und ein roter Sprühregen ging auf Andrés Brust und Gesicht nieder. Angestrengt versuchte sie, ihre Selbstbeherrschung zu wahren, um sich ja nicht zu übergeben und schreiend aus der Tür zu rennen.
Rene war
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