Kind der Nacht
eine Wunde an Andrés Hals. Anschließend kniete er vor Carol nieder und küsste sie mit blutigen Lippen. Aus großen empfindsamen braunen Augen sah er sie mitfühlend an. Er hatte ihr eine kleine Porzellanstatuette mitgebracht, einen ausnehmend schön gearbeiteten Harlekin, mitten im Tanz festgehalten, der in schillernden Rot-, Blau- und Gelbtönen bemalt war. Vor dem Gesicht hielt er an einem Stab eine lächelnde Goldmaske, in der anderen Hand eine silberne Maske mit einem traurigen Gesicht.
»Das habe ich für dich gemacht«, sagte Claude. Mehr nicht.
Danach kam Susan zu ihr. Das Mädchen küsste Carol mit blutroten Lippen und blickte sie aus runden unschuldigen blauen Augen an. Schüchtern gab sie ihr ein handgeschriebenes Buch. »Liebesgedichte. Die kannst du gemeinsam mit André lesen. Ich habe sie selbst geschrieben.«
Carol hatte die Statuette links des Phasers abgelegt und legte das Buch nun rechts davon hin.
Als Nächste kniete Jeanette vor ihr nieder. Carol war erstaunt, das klebrige Blut an diesen Lippen zu sehen, über die sonst so kluge Worte kamen. Nachdem Jeanette sie geküsst hatte, reichte sie ihr drei zusammengerollte Bögen handgeschöpftes Papier, die von einem geflochtenen zinnoberroten Satinband zusammengehalten wurden. »Das sind Horoskope! Ausgehend von Sonntag um Mitternacht habe ich sie für dich, André und Michel gestellt.« Carol nahm sie und legte sie hinter sich.
»Das ist eine Miniatur.« Gerlinde gab ihr eine kleine Leinwand, auf der sie Böcklins Gemälde Die Toteninsel reproduziert hatte. Es hatte die Einsamkeit der Seele zum Thema, die der Fährmann Charon über den Styx ruderte. Leicht rosa angehauchte Tränen traten in Gerlindes Augen, und um ein Haar hätte auch Carol angefangen zu weinen. »Denk dran, Kleine, wir sind alle schon dort gewesen«, sagte die Rothaarige, indem sie Carol einen Kuss auf die Lippen hauchte und so das rituelle Blut weitergab. Carol legte das kleine Gemälde neben die Horoskope.
Karl trat zu ihr und reichte ihr ein Glasfläschchen, in dem sich ein zerstoßener Stein befand, Alaun, wie er sagte. »Gib dies in Wasser, und zwar an einem dunklen Ort, für fünf Wochen oder länger. Sieh zu, dass sich in der Nähe nichts rührt.« Seine feuchten Lippen streiften die ihren. Er schwieg einen Augenblick und begann dann zögernd, mit leiser Stimme, ein paar Zeilen aus einem Gedicht von T. S. Eliot zu rezitieren. Es ging um einen vollkommen friedlichen Moment, einen Zeitpunkt, der es einem gestattete, zu tanzen, und außerhalb dieses Tanzes spielte nichts eine Rolle. Als Karl endete, wirkte er ein bisschen verlegen. Rasch stand er auf, und Carol stellte das Alaun neben Gerlindes Gabe.
Von Chloe erhielt Carol eine rubinrote noch fest geschlossene Rosenknospe, deren langer dorniger Stiel in einer schlanken durchsichtigen Glasvase steckte. »Aus der Knospe entspringt die Blüte, die dann verwelkt - Jungfrau, Mutter und alte Vettel.« Sie küsste Carol mit blutroten Lippen. »Die Rose wird auch >die Blume der Venus< genannt. Dem Mythos zufolge schufen die Götter die Rose Aphrodite zu Ehren, nachdem diese dem Meer entstiegen war. Als sie nach ihrem getöteten Liebhaber Adonis suchte, riss sie sich die Füße an den Dornen auf, und so wurde die Rose rot.« Carol legte die Rose zu ihrer Rechten ab, zwischen sich und André.
Als Nächste kam Morianna. Mittlerweile hatte Carol begriffen, dass die Reihenfolge wohl etwas damit zu tun hatte, wie lange jeder Einzelne bereits ein Vampir war. Die eurasisch aussehende Frau drückte ihr einen von karmesinroten Schlieren durchzogenen bräunlich-grünen Chalzedon in die Hand, eine etwas kleinere Version des Steines, den sie um den Hals trug. »Der Blutstein. Er verleiht dir Mut, Weisheit und Lebenskraft. Wer ihn trägt, ist kühn, intelligent, mutig, großherzig und pflichtbewusst«, erklärte sie. Ihre Augen lachten. »Plinius sagt, der Heliotrop bringe seinem Besitzer, wenn es hart auf hart geht, Erfolg im Kampf - sofern er einen kühlen Kopf bewahrt«, fügte sie hinzu, während ihre Lippen einander berührten. Es gab eine elektrische Entladung, ganz leicht nur, aber sie war unzweifelhaft vorhanden, ein Gefühl, das mit jedem Kuss stärker geworden war. Der Stein kam rechts neben der Rose zu liegen.
Als Letzter war Julien an der Reihe. Sein Blick bohrte sich in Carols Augen, fast als wolle er sie in sich aufsaugen. Er sagte nichts und hatte auch nichts bei sich,
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