Kind der Sünde (German Edition)
Pause.
Der Mann in dem dunklen Jackett drückte seinem Gegner die Kehle zu. Die Finger seiner Rechten krallten sich zusammen. Dann schoss die Hand nach vorn und bahnte sich begleitet von dem hässlichen Geräusch von knackenden Rippen ihren Weg in den Brustkorb des Gegners.
Amber biss sich auf die Faust, um den Laut zu ersticken, der ihr in der Kehle steckte.
Der Getroffene öffnete seinen Mund zu einem stummen Schrei. In seiner Brust klaffte ein faustgroßes Loch.
Amber war unfähig, sich zu rühren, und konnte trotzdem den Blick nicht abwenden. Es war der reine Horror. Der Angreifer mit dem dunklen Haar riss seinem Gegenüber mit einem Ruck das Herz heraus. In hohem Bogen spritzte das Blut an die Wand. Dann hielt er das noch zuckende Herz in der Hand und stopfte es anschließend in eine Tasche oder einen Beutel. Genau konnte Amber es von ihrem Standort aus nicht erkennen.
Weg. Sie musste hier weg, aber ihre Füße gehorchten ihr nicht. Das Entsetzen lähmte sie. Überall war Blut – an den Wänden, auf dem Boden. Auch die beiden Kontrahenten waren über und über damit besudelt.
Ob sie doch einen Laut von sich gegeben hatte oder der Angreifer sie von sich aus bemerkt hatte, wusste sie nicht. Er wandte den Kopf, aber nicht so weit, dass sie sein Gesicht erkennen konnte, und sagte: „Deinetwegen bin ich nicht hier.“ Seine Stimme, rau wie Sandpapier, ließ Amber erschauern.
Noch einmal griff er in das Loch in der Brust. Amber machte einen Schritt zur Seite und erstarrte, als ein schleimiges, schwarzes Ding aus dem Toten herausgekrochen kam und sich um den Unterarm schlang. Dann löste es sich und stieg als eine dunkle, schmierige Wolke auf, bis es auf Schulterhöhe des Killers dümpelte, wo der es mit einem leuchtenden Band einfing und festhielt.
„Hau ab“, sagte er und wandte sich wieder seinem Opfer zu. Nachdem er dessen Gurgel losgelassen hatte, fiel der leblose Körper zu Boden.
Amber zitterten so sehr die Knie, dass sie sich kaum auf den Beinen halten und nur noch vorwärtstaumeln konnte.
Sie hörte einen scharfen Atemzug, dann drehte der Fremde sich langsam zu ihr um, und Amber war wie vom Donner gerührt. Dunkles, kurz geschorenes Haar, hoch stehende Backenknochen, dunkle, von dichten Wimpern umsäumte Augen, Dreitagebart.
Seine Miene war ausdruckslos und kalt, während die Gefühle mit Amber Achterbahn fuhren. Sie glaubte noch immer, ihren Augen nicht zu trauen.
Kai .
Es konnte nicht sein. Es war nicht möglich.
Er war tot.
Amber konnte sich gerade noch zurückhalten, um nicht in hysterisches Gelächter auszubrechen. Andererseits wusste niemand besser als sie, dass der Tod nicht unbedingt das Ende der Existenz bedeutete.
Aber Kai? Sie hatte seinen Leichnam gesehen. Sie hatte sein Grab besucht, wenn auch nur ein einziges Mal. Häufiger hinzugehen hatte sie sich nicht getraut. Die, die sie jagten, lauerten sicher genau dort, um sich auf ihre Fährte zu setzen.
Nein, sie war zweimal da gewesen. Sie war dumm genug gewesen, dieses Risiko einzugehen. Es war erst eine Woche her, an seinem Geburtstag. Sie hatte Blumen mit ans Grab genommen. Margeriten, weil das die Blumen waren, die er ihr immer geschickt hatte. Sie konnte es selbst nicht fassen, dass sie so dumm gewesen war. Er hatte sie ihren Verfolgern ausgeliefert, und sie brachte ihm in einer Anwandlung von Sentimentalität und Einsamkeit im Herzen fünfzig Jahre später Margeriten ans Grab.
Das musste der Auslöser gewesen sein. Selbst nach all den Jahren, hatten die anderen noch immer auf ihr Kommen gelauert.
Das Licht, das von der Straße her durchs Fenster schien, fiel auf seine kantigen Züge. Ihre Blicke trafen sich, aber Amber vermochte es nicht, in seinen Augen das geringste Gefühl zu lesen. Weder Liebe noch Hass, vielleicht nicht einmal ein Zeichen des Wiedererkennens.
Unten fing die Musik wieder an zu spielen. Die Beats hämmerten ihr in den Ohren. Oder war das nur ihr Puls, der so raste, dass ihr fast schwarz vor Augen wurde?
„Amber.“
Sie sah, wie seine Lippen die Silben formten, wobei sie seine Stimme nicht hören konnte. Ihr Hals war wie zugeschnürt. Halb von Sinnen taumelte sie in Richtung der Tür, aber Kai stellte sich ihr in den Weg.
„Lass mich durch!“, rief sie. Sie war nicht einmal sicher, ob er sie bei der lauten Musik überhaupt hören konnte.
Er starrte sie nur schweigend an.
Amber schaute zuerst auf den Toten mit dem aufgerissenen Brustkorb, der in einer Blutlache am Boden lag, dann auf die graue,
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