Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)
stehe lieber. Setzen Sie sich.«
Doherty zögerte und nahm Platz.
»Ist Emmeline hier?«, wollte ich wissen.
»Nein. Nein, sie ist nicht hier. Sie müssen nicht …«
»Doch. Ich muss mit ihr reden.«
»Herrgott noch mal.« Er schüttelte den Kopf und sah hinab auf den verschlissenen Teppich. War da eine Spur von Ärger zu erkennen? Mein Bruder war nie ein aufbrausender Mensch gewesen. Nach außen hin jedenfalls nicht. »Das ist nicht nötig. Sie hat genug zu tun. Wir sprechen über alles.«
»Bei mir ist eine Beschwerde eingegangen.«
»Von ihren Eltern.«
Wieder schüttelte er den Kopf. Von ihren Eltern, die sich in alles einmischten. Als hätte Gregor Lewtschenko ihm unrecht getan, indem er zur Anzeige gebracht hatte, was seiner Tochter angetan wurde. Aber auch das war ein ganz normales Verhalten – ein Stück Wirklichkeit hinter der reuigen Fassade des doch so »sympathischen« Kerls. Im Geiste aber sah er sich, trotz seiner Tat, hier auch als Opfer und war verärgert darüber, dass ihn die Welt zwang, sich der grausamen Wahrheit zu stellen, dass sie ihn unter Druck setzte, ihm noch mehr aufbürdete, mit dem er fertig werden musste.
Das übliche Verhalten. Das war mir alles nicht fremd.
Aber der hier … das war John.
»Ich werde mit Emmeline sprechen und sie fragen, ob sie Anzeige erstatten möchte. In dem …«
»Wird sie nicht. Das tut sie nicht. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Wir regeln das unter uns.«
Bis dahin, war ich drauf und dran zu sagen, nehme ich Sie fest wegen Verdachts auf Körperverletzung. Aber irgendetwas hielt mich davon ab, ohne dass ich genau wusste, was es war. Vielleicht wollte ich hören, was er sonst noch zu sagen hatte. Vielleicht war es auch etwas anderes.
»Sehen Sie, mir ist klar, was ich getan habe.«
Er richtete die Handflächen nach oben, versuchte zu betonen, wie ehrlich und aufrichtig er war. Offensichtlich gelang es ihm jetzt besser, den Ärger zu unterdrücken, wenn er nicht sogar mit den Tränen kämpfte.
»Ich weiß, was ich getan habe. Und ich weiß auch, dass es verkehrt war. Sie können das nicht verstehen. Ich komme aus einem gewalttätigen Elternhaus. Ich kann kaum glauben, dass ich das getan habe. Ich … ich meine, ich verabscheue es zutiefst. Das macht mich ganz krank. Ich mache mich ganz krank.«
Ich sagte nichts, überlegte mir aber, dass die Tat durch Johns Vorstrafe womöglich noch verschlimmert wurde. Sicher war ich mir nicht, hielt es aber für mehr als wahrscheinlich, dass er für den Rest seines Lebens Bewährungsauflagen bekommen hatte. Aber statt darüber nachzudenken, gingen mir seine Worte im Kopf herum. Ich wusste sehr genau, was ein gewalttätiges Elternhaus bedeutete. Auch ich hatte dort gelebt, hatte mit ihm dort gelebt. Bis zu dem Moment, als er unseren Vater aus dem Leben beförderte und unser beider Leben getrennte Wege gehen ließ. Wir kamen aus demselben Zuhause, er und ich.
»Ich gehe zum Antiaggressionstraining.« Jetzt weinte John. »Das habe ich versprochen. Außerdem werden wir noch eine Therapie machen. Ich meine, Sie können sich gar nicht vorstellen, wie angeekelt ich von mir selbst bin. Ich würde eher mir selbst Gewalt antun, als ihr weh zu tun – ehrlich. Ich liebe sie so sehr.«
»Wenn das stimmt, dann sollten Sie nicht zusammen sein.«
Er schüttelte den Kopf.
»Weil Sie es wieder tun werden, John.«
»Nein, nein. Ich bin kein … schlechter Mensch. So einer bin ich nicht. Ich weiß, welchen Anschein das hat, aber Sie müssen mir glauben.«
Ich sah ihn nur an. Es war so lächerlich: Hundert Mal hatte ich das schon gehört. Das sagen sie alle. Ich bin kein schlechter Mensch. Daher musste ich ihm nicht glauben, und ich wusste auch, dass ich ihm nicht glauben sollte . Aber es war nun einmal John. Wir stammten aus demselben Zuhause. Und wenn er ein schlechter Mensch war, was war ich dann?
Du kennst die Antwort auf diese Frage.
Nein.
Doch.
» Ich bin kein schlechter Mensch. Es wird nicht wieder vorkommen. Sie können … Sie können sich das gar nicht vorstellen.«
Mein Bruder schüttelte den Kopf.
»Sie müssen mir glauben.«
Musste ich?
Nein. Musste ich nicht. Warum tat ich es dann doch? Seitdem ist mir das tausend Mal durch den Kopf gegangen. Es gibt Tage, an denen ich an nichts anderes denke. Ich habe es auf den Schreck geschoben, ihn nach all den Jahren wiederzusehen, und auf das falsche Gefühl von Loyalität ihm gegenüber, für das, was er als Kind getan hatte, um mich zu beschützen. Und
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