Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)
oder ohne Mutter –, hätte er sich vermutlich etwas anderes suchen müssen. Und wir nehmen an, dass ihm die Arbeit beim Militär viel bedeutet hat.«
»Warum?«
»Sein Vater war bei der Armee, wissen Sie. Im Krieg hat er Codes geknackt. Aber Wilkinson ist aus gesundheitlichen Gründen bei der Musterung durchgefallen. Es gibt über ihn ein paar Aktenvermerke wegen Selbstverletzung. Er hat gesehen, wie sein Vater starb, und kam gleich danach mit einer Überdosis ins Krankenhaus. Bei der Musterung hielt man ihn für psychisch nicht ausreichend belastbar, um Soldat zu werden. Anscheinend hat er es auf seine eigene Weise versucht.«
Er fährt fort, das unvollständige Bild des Mannes zu skizzieren, der letztendlich für den Mord an Gregor verantwortlich war. Eines Mannes, der seinem Vater ebenbürtig sein, sich andererseits aber vielleicht auch mit ihm messen wollte. Eines Mannes, der im Widerstreit unvereinbarer Erinnerungen, Begierden und Bedürfnisse gefangen war. Eines Mannes, der von der Außenwelt wohl gar nicht verstanden werden konnte.
Jasmina versteht so viel, dass Wilkinsons Motive und Beweggründe in einem Raum verschlossen bleiben werden, zu dem der Zugang versperrt ist. Dass man nur vermuten und spekulieren kann. Aber auch, dass es nichts ändern würde, selbst wenn diese Gründe klar und deutlich zutage träten. Sie würden nicht ausreichen, und ändern würden sie auch nichts.
Am Ende zählt doch nur das Ergebnis.
»Wir wissen es nicht.« Hicks macht ein gequältes Gesicht. »Ich weiß, dass all das sinnlos erscheint, und ich wünschte, es wäre anders. Ich wünschte, wir hätten eine Erklärung dafür.«
»Es ergibt eben nicht immer einen Sinn«, sagt sie.
Das lässt Hicks noch bedrückter aussehen. Einen Moment wirkt er abwesend, bis er sich wieder besinnt. »Ich wollte Ihnen auch sagen, dass es mir leidtut, was Ihrer Tochter widerfahren ist.«
Emmeline. Den Namen zu hören schmerzt sie heute noch mehr als sonst. Andererseits ist es eine alte Wunde, und er meint es nur gut. Sie nickt kurz.
»Danke.«
»Was passiert ist, ist nicht richtig. Es tut mir wirklich leid.«
»Es ist nicht Ihre Schuld. Selten ist das, was richtig ist, auch das, was geschieht. Wir können nur versuchen, so gut wie möglich damit zu leben.«
Sie stellt sich Emmelines Gesicht vor.
»Haben Sie Kinder, Detective?«
»Ja«, sagt er unverzüglich.
»Sie müssen sich um sie kümmern, so gut es irgend geht. Das ist alles, was Sie für sie tun können.«
Er sieht sie an und nickt.
»Ja«, sagt er. »Das werde ich.«
In der Nacht liegt Jasmina allein in dem riesigen, leeren Bett. Ihre Schwester hat ihr angeboten, es mit ihr zu teilen, aber das hat sie abgelehnt, so dass Corinna jetzt unten auf dem Sofa schläft. Nachdem sie eingeschlafen war, hatte Jasmina behutsam eine Decke über sie gelegt, bevor sie sich nach oben zurückzog. Und obwohl sie beide schon alt sind, erinnert sie sich, wie jung ihre Schwester im Schlaf ausgesehen hat. Der Schlaf glättet Falten, stellt die friedlichen Gesichtszüge eines Kindes wieder her. Er lindert Probleme, wenn auch nur vorübergehend.
Wenn sie das nur haben könnte. Aber der Schlaf will sich nicht einstellen.
Eine Lampe auf dem Nachttisch taucht den Raum in ein weiches Licht. Daneben steht das Foto ihrer Tochter, zu dem sich jetzt auch das gerahmte Bild ihres Mannes gesellt, das sie für die Beerdigung ausgewählt hat. Jetzt sind sie zusammen, so, wie auch immer es ihnen möglich sein mag – wenn auch nur hier auf ihrem Nachttisch und in ihren Gedanken.
Und vor den Fotos steht die Kerze.
Jasmina liegt da und sieht sie lange an. Und weil sie keinen Schlaf findet, steht sie auf und sucht in den Schubladen des Nachttisches nach der Streichholzschachtel, von der sie weiß, dass sie dort drin ist.
Mit einem kurzen, zischenden Geräusch entzündet sich das Streichholz und flammt auf, wirr und hektisch zunächst, dann, mit einem Mal, ruhig und verletzlich. Schützend legt sie ihre Hand um die Flamme und führt sie zum Docht, bis er leise knisternd Feuer fängt. Die Flamme wird größer und erfasst ein winziges Staubkorn, das sich am Docht befindet und leuchtend gelb aufglimmt, bevor es Sekunden später erlischt.
Jasmina schüttelt das Streichholz aus, benetzt die Fingerspitzen mit der Zunge und drückt es zwischen Daumen und Zeigefinger aus.
Dann legt sie sich wieder auf das Bett und sieht der brennenden Kerze zu. Als sie langsam zu schmelzen beginnt, dringt der feine Duft des
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