Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)
dahinter kaum zu verbergen vermögen.
Von oben, wenn man sich der Stadt mit dem Flugzeug nähert, sieht es aus, als hätte jemand seltsame Hieroglyphen in endlosen Reihen und Spalten in Stein gehauen – oder vielleicht auch, als würde der Fluss seine Oberlippe hochziehen, um befremdliche graue Zähne gen Himmel zu blecken.
Ich hatte das Navigationsgerät eingeschaltet, dessen pulsierender blauer Pfeil mir bedeutete, dass ich das Ziel fast erreicht hatte, was mir aber wohl ohnehin nicht entgangen wäre. Entweder durch das Band, das die Polizei ein Stück weiter über die Straße gespannt hatte, oder durch das Schreien der Frau, das mir schon von weitem ans Ohr drang.
Es war halb elf an einem Freitagmorgen. Ein warmer Tag, so dass ich das Autofenster heruntergekurbelt hatte und den Arm mit aufgekrempelten Ärmeln lässig heraushängen ließ, um ihn mir von der milden Sonne bescheinen zu lassen.
Hinter dem Absperrband standen drei Fleischlaster und vier Polizeiwagen. Das Blaulicht auf dem Dach des ersten kreiselte in der Sonne müde vor sich hin. Auf beiden Seiten der Straße waren einfache Uniformierte postiert, die sensationslüsterne Gaffer aus den Nachbarhäusern auf Abstand hielten und verhinderten, dass sie uns zu viele wirre oder aufgebauschte Geschichten erzählten.
Vor dem Absperrband hielt ich an.
Geräuschvoll schlug ich die Autotür zu. Die Schreie erfüllten die Nachbarschaft: ein kaum zu ertragendes Jammern, zwei Stockwerke über uns, das sich den Weg zu uns hinunter bahnte. Das verzweifelte Wehklagen einer gebrochenen Seele, der Mutter des Opfers, nahm ich an. Die Schreie schienen im krassen Widerspruch zu dem warmen, cremigen Sonnenlicht zu stehen. Es ist seltsam, aber schlimme Dinge, die sich am helllichten Tag ereignen, wirken um einiges schmutziger, als würden sie nachts passieren.
»Detective Hicks.« Ich hielt dem Polizisten, der das Absperrband auf dieser Seite der Straße bewachte, meine Polizeimarke hin. Er nickte kurz und hob es für mich an. »Alles klar?«
»Ja, Sir. Detective Fellowes ist da drüben.«
»Danke.«
Detective Fellowes – Laura, meine Partnerin – stand ein Stück weiter vor Block acht. Sie sprach gerade mit ein paar Polizisten und deutete hier und dort hin, während sie ihnen die zahlreichen Aufgaben zuwies, die es an einem Tatort zu erledigen gibt.
Normalerweise wären wir zusammen am Tatort eingetroffen, aber wegen eines Termins von Rachel bei ihrer Hebamme hatte ich mir den Vormittag freigenommen. Als Laura mich angepiept hatte, befanden wir uns noch oben in ihrer Praxis, waren aber schon fast fertig. Rachel erhob sich gerade mühsam von der Liege und wischte sich mit einem dicken Papierstoß das Ultraschall-Gel vom Bauch, als ich das Vibrieren an meiner Hüfte spürte.
Mir war sofort klar, dass es sich um etwas Wichtiges handeln musste, wenn Laura mich in meiner Freizeit behelligte. Andererseits aber hatte ich dauernd dieses Gefühl, besonders unter diesen Umständen. Alles, was mit Schwangerschaft zu tun hatte, machte mir Angst. Jeder Gedanke an das Baby ließ die Welt um mich herum zerbrechlich und verwundbar werden, und ich bekam Angst, dass jederzeit etwas schiefgehen könnte. Dass während einer Schwangerschaft etwas passieren könnte, schien mir kein unvernünftiger Gedanke zu sein, und diese Sorge auf die ganze Welt zu übertragen war so viel abwegiger auch nicht.
Ich kam bei Laura an, als sich die Gruppe gerade zerstreute, um sich den Aufgaben zu widmen, die jedem Einzelnen übertragen worden waren.
»Mor-gen«, begrüßte ich sie gedehnt.
»Hicks.«
Laura trug einen dunklen Hosenanzug. Das hellbraune Haar reichte ihr bis zur Schulter. Sie wirkte angespannt und fuhr sich hektisch mit einer Hand durch das Haar, das aber sogleich wieder die Gestalt einer ordentlichen Frisur annahm. Sie brauchte morgens immer eine ganze Weile, um sie so in Form zu bringen, dass ihr durch das unverzichtbare Raufen und Kneten nicht der Schaden zugefügt wurde, den man eigentlich erwarten würde.
Wir hatten dieselbe Haarfarbe und dieselben Sommersprossen auf Nase und Wangen, und da wir beide Mitte dreißig waren, aber jünger aussahen, wurden wir oft für Bruder und Schwester gehalten. Das ärgerte sie. Sie kannte mich zu gut.
»Tut mir leid, dass ich dich holen musste.«
»Kein Problem. Eine willkommene Entschuldigung, da wegzukommen.«
Das brachte mir einen tadelnden Blick ein. In den acht Monaten, seit Rachel schwanger war, hatte Laura keine Gelegenheit
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