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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Länder verkaufen, aber Rumänien hat derzeit keine Auslandsschulden. Überhaupt keine.«
    »Mmm«, sagte ich und versuchte, mich an die Bruchstücke meines Traums während der wenigen Augenblicke Schlaf zu erinnern. Etwas über Blut und Eisen.
    »Ein Handelsüberschuß von eins Komma sieben Milliarden Dollar«, murmelte Paxley und beugte sich so nahe zu mir, daß ich riechen konnte, daß auch er eine Zwiebel zum Abendessen gehabt hatte. »Und sie schulden dem Westen nichts und den Russen nichts. Unglaublich.«
    »Aber das Volk hungert«, sagte ich leise. Donna Wexler und Pater O'Rourke schliefen auf dem Platz vor uns. Der bärtige Priester murmelte leise vor sich hin, als kämpfe er gegen einen Alptraum an.
    Paxley tat meinen Einwand mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Wenn es zur deutschen Wiedervereinigung kommt, wissen Sie, wieviel die Westdeutschen investieren müssen, nur um die Infrastruktur im Osten neu aufzubauen?« Ohne auf meine Antwort zu warten, fuhr er fort: »Hundert Milliarden deutsche Mark - und nur um den Stein ins Rollen zu bringen. In Rumänien ist die Infrastruktur so erbärmlich, daß es kaum etwas abzureißen gibt. Man kann einfach nur den Industriewahnsinn abreißen, auf den Ceauşescu so stolz war, sich die billige Arbeitskraft zunutze machen - mein Gott, sie sind beinahe Leibeigene - und jedwede Infrastruktur aufbauen, die man haben will. Das Modell Südkorea, Mexiko ... sie sind alle bereit für sämtliche westlichen Firmen, die das Risiko eingehen wollen.«
    Ich tat so, als döse ich ein, und schließlich ging der Professor emeritus den Mittelgang entlang und suchte nach jemand anderem, dem er die wirtschaftlichen Gegebenheiten erklären konnte. Die Dörfer blieben in der Dunkelheit zurück, während wir weiter in die Berge von Transsilvanien vordrangen.
     
    Wir trafen vor Einbruch der Dämmerung in Sebeş ein, wo uns ein unbedeutender Amtmann empfing und uns zum Waisenhaus führte.
    Nein, Waisenhaus ist ein zu beschönigendes Wort. Es handelte sich um ein Lagerhaus, das nicht besser geheizt war als die anderen Schlachthäuser, in denen wir bisher gewesen waren, und es war vollkommen schmucklos, abgesehen von schmutzigen Bodenfliesen und abblätternder Wandfarbe, die etwa bis auf Augenhöhe speigrün und darüber lepragrau war. Der Hauptsaal hatte einen Durchmesser von mindestens hundert Metern.
    Er stand voller Kinderbetten.
    Doch wieder ist das Wort zu beschönigend. Keine Kinderbetten, sondern flache Metallkäfige ohne Decken. In diese Käfige waren Kinder gesperrt. Kinder, deren Altersspektrum von Neugeborenen bis zu Zehnjährigen reichte. Keines schien gehen zu können. Alle waren nackt oder in schmutzverkrustete Fetzen gehüllt. Viele schrien oder weinten stumm, die Wölkchen ihres Atems stiegen in der kalten Luft empor. Gestreng dreinblickende Frauen mit komplizierten Schwesternhauben standen zigarettenrauchend an der Peripherie dieses Menschenlagerhauses und schritten gelegentlich einen Gang entlang, um einem Kind unwirsch ein Fläschchen zu geben - manchmal einem sieben- oder achtjährigen Kind - häufiger aber, um sie mit Prügeln zum Schweigen zu bringen.
    Der Abgeordnete und der kettenrauchende Direktor des ›Waisenhauses‹ keiften uns eine Tirade entgegen, aber Fortuna ließ sich nicht dazu herab, sie für uns zu übersetzen, dann führten sie uns durch den Saal und schlugen hohe Türen auf.
    Ein weiterer Saal, ein großer Saal, erstreckte sich bis in kälteverhangene Fernen. Strahlen kargen Morgenlichts fielen auf Käfige und Gesichter darin. Es mußten sich mindestens tausend Kinder in diesem Saal befinden, kein einziges älter als zwei Jahre. Einige weinten, und ihr kindliches Wimmern hallte durch den gekachelten Raum, aber die meisten schienen zu geschwächt und lethargisch zum Weinen zu sein und lagen nur auf ihren dünnen, exkrementverschmierten Laken. Einige hatten sich zur Embryonalhaltung des bevorstehenden Hungertodes zusammengerollt. Einige schienen tot zu sein.
    Radu Fortuna drehte sich um und verschränkte die Arme. Er lächelte. »Sehen Sie jetzt, wohin Babys gehen, ja?«

Kapitel 4
     
    In Sibiu fanden wir die versteckten Kinder. In dieser zentralen transsilvanischen Stadt mit hundertsiebzigtausend Einwohnern gab es vier Waisenhäuser; jedes einzelne war größer und trauriger als die in Sebeş. Dr. Aimslea verlangte über Fortuna, daß man uns die AIDS-Kinder zeigen sollte.
    Der Direktor des staatlichen Waisenhauses Strada Cetatii 319, eines alten

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