Kinder der Retorte
›Training‹ und die stete zermürbende Bekundung, Manuel würde eines Tages an die Macht kommen.
Manuel hatte nicht den Wunsch, die Herrschaft über das Reich seines Vaters zu übernehmen, noch glaubte er, daß er dazu fähig war. Er entwuchs erst jetzt seiner Playboy-Phase, war im Begriff, seinen Unernst zu überwinden, wie andere ihren Atheismus überwanden. Er hielt Ausschau nach einem sinnvollen Lebenszweck, nach einer Tätigkeit, die seinen Ambitionen und Fähigkeiten entsprach. Eines Tages würde er vielleicht eine ihn ausfüllende Aufgabe finden, doch er bezweifelte sehr, daß sie in der Leitung des Krug-Konzerns liegen würde.
Der alte Mann wußte das ebensogut wie Manuel. Innerlich verachtete er die Hohlheit seines Sohns, und manchmal schimmerte diese Verachtung durch. Doch er hörte nie auf zu behaupten, daß er seines Sohnes Urteil, Intelligenz und administrative Fähigkeiten hoch einschätzte. Gegenüber Thor Watchman, gegenüber Leon Spaulding, gegenüber jedermann, der ihm zuhören wollte, pries Krug die Vorzüge des Thronfolgers. Selbstbetrügerische Heuchelei, dachte Manuel; er versucht, sich selbst das glauben zu machen, von dem er weiß, daß es nicht wahr ist. Es würde nie wahr sein. Er wird immer größeres Vertrauen zu seinem androiden Freund Thor haben als zu seinem eigenen leiblichen Sohn. Und aus guten Gründen. Warum nicht einen begabten Androiden einem untüchtigen Kind vorziehen? Er hat uns doch beide geschaffen.
Soll er doch Thor Watchman die Leitung des Konzerns übertragen, dachte Manuel.
Die anderen Mitglieder der Gesellschaft trafen ein. Krug geleitete jeden einzeln zu den Transmatkabinen.
»Zum Turm«, rief er. »Zum Turm!«
*
11.10 Uhr, am Turm. Er hatte den größeren Teil einer Stunde von seinem verlorenen Morgen wiedergewonnen durch das Überspringen der Zeitzone westlich von New York. Doch er hätte gerne auf die Reise verzichtet. Es war schlimm genug, in dem eisigen arktischen Herbst Begeisterung zu zeigen und sich dazu zu zwingen, seines Vaters absurden Turm zu loben – die Pyramide Krugs beliebte Manuel sie insgeheim zu nennen –, doch dann war da noch die Geschichte mit dem abstürzenden Block gewesen, der die Androiden erschlug. Ein häßlicher Zwischenfall.
Clarissa war einem hysterischen Ausbruch nahe gewesen. »Schau nicht hin«, sagte Manuel zu ihr, legte die Arme um sie, als der Wandschirm im Kontrollzentrum zeigte, wie der Block von den Leichen gehoben wurde. Zu Spaulding sagte er: »Ein Beruhigungsmittel. Schnell.«
Der Ektogene reichte ihm eine Injektionskapsel. Manuel drückte die Spitze des Glasröhrchens gegen Clarissas Arm und betätigte den Abzug. Ultraschallwellen jagten die Droge durch ihre Haut ins Gewebe.
»Sind sie tot?« fragte sie, den Kopf noch immer abgewandt.
»Es sieht so aus. Vielleicht hat einer überlebt. Die ändern merkten nicht mehr, daß sie etwas traf.«
»Die armen Menschen!«
»Keine Menschen«, sagte Leon Spaulding. »Androiden. Nur Androiden.«
Clarissa hob den Kopf. »Androiden sind Menschen!« sagte sie schrill. »Ich will so etwas nie wieder hören! Haben sie nicht Namen, Gefühle, Persönlichkeit…«
»Clarissa«, unterbrach Manuel sie.
»…Träume?« fuhr sie unbeirrt fort. »Natürlich sind sie Menschen. Es waren Menschen, die soeben unter diesem Block starben. Wie konnten Sie, gerade Sie, eine solche Bemerkung machen über…«
»Clarissa!« sagte Manuel beschwichtigend.
Spaulding sah sie starr an. Der Ektogene war bleich vor Wut, doch er beherrschte sich.
»Es tut mir leid«, murmelte Clarissa und blickte zu Boden. »Ich wollte nicht persönlich werden, Leon. Ich… ich, mein Gott, Manuel, warum mußte so etwas gerade jetzt geschehen?« Sie begann wieder zu schluchzen. Manuel winkte nach einer weiteren Beruhigungskapsel, doch sein Vater schüttelte den Kopf, trat zu ihnen, führte sie von ihm weg.
Krug nahm die zierliche Frau in seine mächtigen Arme, drückte sie an seine breite Brust. »Ruhig«, sagte er. »Ruhig, ruhig. Es ist ein entsetzlicher Unfall, ja. Aber sie haben nicht gelitten. Sie waren auf der Stelle tot. Thor wird sich um die Verletzten kümmern. Er wird ihr Schmerzzentrum abschalten, und sie werden nicht mehr leiden. Arme Clarissa, arme, arme Clarissa… du hast wohl noch nie jemand sterben sehen? – Es ist schrecklich, wenn es so plötzlich geschieht, ich weiß, ich weiß.« Er tröstete sie zärtlich, streichelte ihr langes seidiges Haar, tätschelte sie, küßte ihre feuchten Wangen.
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