Kinder der Stürme
hinaufsahen. Tatsächlich schien die Prozession am Himmel sie zu verärgern und zu irritieren, denn ein junger Bursche aus der Gruppe, mit blassem, pockennarbigem Gesicht, zitterte sichtlich, wann immer ein Schatten über ihn hinwegglitt.
Kurz vor Sonnenuntergang erreichten sie auf der Straße den ersten Kontrollpunkt. Die Eskorte ging weiter, ohne anzuhalten. Einige Meter weiter endete der Weg plötzlich. Von diesem Punkt aus konnte man das ganze Tal überblicken.
Maris atmete tief durch und fühlte, daß Evan ihre Hand drückte.
Im roten Schein des Sonnenuntergangs verschwanden die Farben allmählich, während sich Schatten am Boden des Tals abzeichneten. Die Welt unter ihnen schien von Blut getränkt, und die Festung krümmte sich wie ein großes, verwundetes Schattentier. Die Feuerstellen im Innern flackerten und gaben dem dunklen Gemäuer den Anschein, als würde es sich winden und zittern, wie ein vor Panik rasendes Ungetüm.
Über ihnen verharrten die Flieger.
Das ganze Tal war voll von ihnen. Maris zählte zehn auf einen Blick. Hitze schlug gegen Stein und gab ihnen einen kräftigen Aufwind. Die Flieger ließen sich von ihm treiben und stiegen hoch hinauf, dann flogen sie in weitläufigen Spiralen wieder hinab. Sie kreisten und kreisten und warteten. Dunkle Aasdrachen, die auf den Tod des Schattentiers lauerten. Eine finstere, unheimliche Szene.
„Kein Wunder, daß er sich fürchtet“, sagte Maris.
„Wir müssen weiter“, sagte der junge Offizier, der die Gruppe anführte.
Maris warf einen letzten Blick hinauf. Dann folgte sie den anderen ins Tal, wo Tyas stille Trauergäste ihre Kreise über der dunklen Festung flogen, in deren kalten Steinsälen sich der Landmann von Thayos vor dem Himmel fürchtete.
„Ich beabsichtige euch drei zu hängen“, sagte der Landmann.
Er saß auf einem hölzernen Thron in seinem Empfangszimmer und hatte den Griff eines schweren bronzenen Messers in der Hand, das auf seinen Knien lag. Gegen sein weißes Seidenhemd hob sich seine silberne Amtskette ab, die im sanften Licht der Öllampen glänzte. Im Gegensatz zu seiner Kleidung war sein Gesicht blaß und verzerrt.
Der Raum war voll von Landwachen. Sie standen ruhig und bewegungslos entlang der Wände. Der Raum war fensterlos. Wahrscheinlich hatte der Landmann ihn deswegen gewählt. Draußen zogen die schwarzen Flieger ihre Bahnen vor dem dunklen Sternenhimmel.
„Laß Coll frei“, sagte Maris und versuchte ihre Stimme so ruhig wie möglich zu halten.
Der Landmann verzog das Gesicht und hantierte mit dem Messer. „Bringt den Sänger herein“, befahl er. Eine Landwache eilte hinaus. „Dein Bruder hat mir große Sorgen bereitet“, fuhr der Landmann fort. „Seine Lieder sind Verrat. Ich sehe keinen Grund ihn freizulassen.“
„Wir haben ein Übereinkommen getroffen“, sagte Maris schnell. „Ich bin gekommen. Nun mußt du Coll die Freiheit geben.“
Der Landmann verzog das Gesicht. „Versuch nicht, mir zu sagen, was ich zu tun habe. Wie kommst du dazu, mir Vorschriften machen zu wollen? Zwischen uns gibt es keine Übereinkunft. Ich bin der Landmann. Ich bin Thayos. Du und dein Bruder seid meine Gefangenen.“
„S’Rella hat mir dein Versprechen übermittelt“, antwortete Maris. „Sie wird davon erfahren, wenn du es brichst und bald werden Flieger und Landmänner überall in Windhaven davon Kenntnis haben. Dein Wort wird dann nichts mehr wert sein. Wie willst du dann regieren oder verhandeln?“
Seine Augen verengten sich. „Oh? Vielleicht ist es so.“ Er lächelte. „Ich habe nicht versprochen ihn heil freizulassen. Wie will er über Tya singen, frage ich mich, wenn ich ihm die Zunge herausgerissen und die Finger seiner rechten Hand abgeschlagen habe?“
Ein Gefühl des Schwindels überfiel Maris, als stünde sie ohne Flügel am Rand eines Abgrundes und wäre im Begriff zu fallen. Dann spürte sie, daß Evan ihre Hand ergriff und sich ihre Finger verschränkten. So fand sie den Halt, den sie suchte. „Das würdest du nicht wagen“, sagte sie. „Selbst deine Landwachen würden eine solche Gewalttat nicht gutheißen, und die Flieger würden über dein Verbrechen so weit berichten, wie sie der Wind trüge. Dann könnten dich deine ganzen Messer nicht mehr schützen.“
„Ich beabsichtige, deinen Bruder freizulassen“, sagte der Landmann lauthals, „nicht weil ich deine leeren Drohungen und seine Freunde fürchte, sondern weil ich gnädig bin. Aber weder er, noch ein anderer Sänger wird
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