Kinder der Stürme
Maris, so geht es einfach nicht. Es ist alles so idiotisch. Ich will nicht fliegen, ich will dir deine Flügel nicht nehmen. Ich tue dir weh, obwohl ich es nicht will, aber ich will auch Vater nicht kränken. Wie kann ich ihm die Wahrheit sagen? Ich bin sein Erbe und so. Ich bin dazu bestimmt, die Flügel zu übernehmen. Er würde mich hassen. Die Lieder handeln nicht von Fliegern, die sich vor dem Himmel fürchten. Flieger haben keine Angst – aber ich bin nicht zum Flieger geboren.“
Seine Hände zitterten sichtlich.
„Mach dir keine Sorgen, Coli. Es wird sich alles zum Guten wenden, wirklich. Zuerst hat jeder Angst. Mir ist es nicht anders gegangen.“ Sie mußte lügen, um ihm die Angst zu nehmen.
„Aber es ist nicht gerecht!“ schrie er. „Ich möchte den Gesang nicht aufgeben, und wenn ich fliege, kann ich nicht singen, nicht so wie Barrion, nicht so, wie ich es gern täte. Warum verlangen sie es von mir? Warum kannst du nicht der Flieger sein, wie du es dir wünschst? Warum?“
Sie sah ihn an. Er war den Tränen nahe. Auch sie konnte das Weinen kaum unterdrücken. Sie wußte keine Antwort. „Ich weiß es nicht, Kleiner. So war es bisher, und so wird es immer sein.“
Sie starrten sich an. Beide Gefangene eines Gesetzes, das älter war als sie, und einer Tradition, die sie nicht verstanden. Hilflos und verletzt saßen sie im Kerzenlicht und sprachen immer wieder alles durch. Erst spät in der Nacht gingen sie zu Bett, ohne das Problem gelöst zu haben.
Als sie allein in ihrem Bett lag, stieg der Groll erneut in Maris auf, das Bewußtsein, etwas verloren zu haben, und die damit verbundene Schande. Sie weinte sich in den Schlaf und träumte von purpurfarbenen Sternhimmeln, die sie niemals mehr durchfliegen würde.
Die Woche schien eine Ewigkeit zu dauern.
Nahezu ein dutzendmal ging Maris in diesen endlosen Tagen auf die Sprungklippe und blickte mit den Händen in den Taschen über das weite Meer. Sie beobachtete Fischerboote und Möwen, und einmal sah sie weit draußen ein paar Seekatzen auf Beutezug. Die plötzliche Enge ihrer Welt erschreckte sie. Der Horizont schien immer näher zu rücken, aber sie konnte ihn nicht aufhalten. Sehnsüchtig spürte sie den Wind in ihren Haaren spielen.
Einmal hatte sie Coli erwischt, als er sie aus der Ferne beobachtete. Später erwähnte es jedoch keiner von ihnen.
Russ bewahrte die Flügel auf. Seine Flügel, die immer ihm gehört hatten, bis Coli sie übernehmen würde. Wenn Klein Amberly einen Flieger benötigte, dann meldete sich Corm von der gegenüberliegenden Seite der Insel oder Shalli, die Maris bei ihren ersten Flugversuchen begleitet hatte. Soviel ihr Vater wußte, hatte die Insel keinen dritten Flieger – und würde auch keinen haben, bis Coli von seinem Geburtsrecht Gebrauch machte.
Russ’ Einstellung gegenüber Maris hatte sich verändert. Manchmal brüllte er sie an, wenn sie dasaß und träumte, manchmal legte er seinen gesunden Arm um sie und war den Tränen nahe. Stets schwankte er zwischen den Extremen Wut und Mitleid. Schließlich zog er es vor, ihr aus dem Weg zu gehen. Nun verbrachte er seine Zeit mit Coli und versuchte, seine Freude und Begeisterung für das Fliegen zu erwecken. Als gehorsamer Sohn ging Coli darauf ein und bemühte sich, die Stimmung des Vaters nachzuempfinden. Aber Maris wußte, daß er auch ausgedehnte Spaziergänge unternahm und stundenlang Gitarre spielte.
Einen Tag bevor Coli flugjährig wurde, saß Maris auf der Sprungklippe. Ihre Beine baumelten über den Sims. Sie beobachtete Shalli, die Silberkreise am mittäglichen Himmel zog. Seekatzenwache für die Fischer, hatte sie gesagt, aber Maris wußte es besser. Sie war lange genug selbst geflogen, um einen Vergnügungsflug erkennen zu können. Selbst jetzt, als Landgefangene, konnte sie das entfernte Echo des Vergnügens spüren. Es gab ihr jedesmal einen Stich ins Herz, wenn sie Shalli erblickte und bemerkte, wie sich das Sonnenlicht auf ihren Flügeln brach.
Soll es so enden? fragte sich Maris. Nein, so hat doch alles begonnen. Ich erinnere mich genau.
Und sie erinnerte sich lebhaft. Manchmal glaubte sie, den Fliegern schon zugeschaut zu haben, bevor sie laufen konnte, aber ihre Mutter hatte das immer bestritten. Trotzdem, Maris erinnerte sich genau an jene Zeit auf der Klippe. Im Alter von vier oder fünf Jahren war sie jede Woche von zu Hause fortgelaufen. Hierher. Sie hatte dagesessen und die Flieger kommen und gehen gesehen. Jedesmal hatte ihre Mutter sie
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