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Kinder der Stürme

Kinder der Stürme

Titel: Kinder der Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R.R. Martin
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gefunden und mit ihr geschimpft.
    „Du bist eine Landgebundene, Maris“, hatte sie ihr jedesmal gesagt, nachdem sie ihr eine Tracht Prügel verabreicht hatte. „Verschwende deine Zeit nicht mit törichten Träumen. Meine Tochter wird niemals ein Holzflügler sein.“
    Es gab eine alte Legende. Ihre Mutter hatte sie4hr immer erzählt, wenn sie sie auf der Klippe gefunden hatte. Holzflügler war der Sohn eines Tischlers, seine ganze Sehnsucht galt dem Fliegen. Aber er gehörte eben keiner Fliegerfamilie an. Das war ihm jedoch egal, berichtete die Geschichte. Er hörte weder auf seine Freunde noch auf seine Familie, er wollte nur den Himmel. Schließlich baute er sich in der Werkstatt seines Vaters ein paar wunderschöne Holzflügel. Große Schmetterlingsflügel aus geschnitztem und poliertem Holz. Alle sagten, sie wären wunderschön, nur die Flieger nicht. Die Flieger schüttelten nur den Kopf und verloren kein Wort. Schließlich kletterte Holzflügler auf die Sprungklippe. Die Flieger warteten dort oben schweigend auf ihn, in Schräglage kreisten sie im hellen Licht der Morgendämmerung. Holzflügler wollte mit ihnen fliegen und stürzte taumelnd in den Tod.
    „Und die Moral von der Geschichte ist“, hatte Maris’ Mutter immer gesagt, „versuche nicht zu sein, was du nicht bist.“
    Aber war das wirklich die Moral? Als Kind hatte Maris sich darüber keine Gedanken gemacht. Sie hatte Holzflügler einfach für einen Dummkopf gehalten. Als sie dann älter wurde, dachte sie oft an diese Legende. Manchmal meinte sie, daß ihre Mutter die Geschichte falsch verstanden haben mußte. Holzflügler war ein Gewinner, dachte Maris. Er war geflogen, wenn auch nur für einen einzigen Augenblick, aber das wog alles auf, sogar den Tod. Er war den Fliegertod gestorben. Und die anderen, die Flieger, waren sie gekommen, um ihn zu verspotten oder ihn zu warnen – nein, sie flogen eine Ehrenwache für ihn, weil er ein Anfänger war und weil sie ihn verstanden. Die Landgebundenen lachten oft über Holzflügler. Der Name war zu einem Synonym für Narr geworden. Aber Flieger, die die Geschichte hörten, mußten unweigerlich mit den Tränen kämpfen.
    Jetzt, wo sie hier in der Kälte saß und Shalli beobachtete, dachte Maris an Holzflügler, und wieder kamen ihr die Tränen. Holzflügler, hat es sich gelohnt, einen kurzen Flug für den ewigen Tod einzutauschen? dachte sie. Und hat es sich für mich gelohnt? Ein paar Jahre Sturmwinde und nun ein ganzes Leben ohne sie?
    Als Russ sie damals angesprochen hatte, war sie das glücklichste Kind der Welt gewesen. Nachdem er sie adoptiert und stolz in den Himmel gestoßen hatte, hätte sie vor Freude sterben können. Ihr leiblicher Vater war auf See gestorben. Eine Szylla hatte ihn erwischt, nachdem der Sturm sein Boot zu weit hinausgetrieben hatte. Ihre Mutter war froh gewesen, daß sie sich nicht mehr um Maris kümmern mußte. Maris genoß das neue Leben in vollen Zügen. All ihre Träume schienen wahr geworden. Holzflügler hat doch recht gehabt, hatte sie damals gedacht. Wenn du dir etwas stark genug wünschst, wird es wahr werden.
    Aber als Coli geboren wurde und sie die Wahrheit erfuhr, brach ihre Welt zusammen.
    Coli. Immer nur Coli.
    Maris verdrängte ihre düsteren Gedanken. Hier oben fand sie ihren Frieden.
    Der Tag kam. Maris konnte ihn nicht aufhalten.
    Obwohl die Feier im Hause des Landmanns stattfand, war es doch nur eine kleine Party. Der Landmann war ein korpulenter, pfiffiger Kerl, dessen freundliches Gesicht sich hinter einem Bart versteckte. Er hoffte, dadurch ernster zu wirken. Als er sie an der Tür begrüßte, hieß er sie aufs herzlichste willkommen. Seine Kleidung spiegelte seinen Wohlstand wider. Reichbesticktes Tuch, Ringe aus Kupfer und Messing und eine schwere Halskette aus echtem Eisen.
    In der Hütte befand sich ein großer Festsaal. Holzbalken an der Decke, brennende Fackeln entlang den Wänden und ein roter Teppich auf dem Boden. In der Mitte stand ein Tisch, der schier unter seiner Last zusammenbrach. Es gab Kivas von Shotan, Wein von Amberly, Käse von Culhall, Früchte von den Äußeren Inseln und große Schüsseln mit grünem Salat. Am Feuer drehte sich eine Seekatze am Spieß, die vom Koch mit Pflanzensaft und Bratensud Übergossen wurde. Es war ein ausgewachsenes Tier, eineinhalbmal so groß wie ein Mensch. Man hatte sein warmes, blaugraues Fell abgezogen, übriggeblieben war ein tonnenförmiger Tierkörper, der in einem Paar mächtiger Flossen auslief.

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