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Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Jimenez
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die wahre Größe möglich machen. Kommunismus ohne Gleichheit, Kapitalismus ohne Freiheit: China schreitet mit spektakulären Schritten voran, doch ohne die Grundlagen für ein gerechtes Justizwesen, starke Institutionen, eine offene Zivilgesellschaft und ein auf Verdienst und Innovation gründendes Wirtschaftssystem.
    Ein Land erringt keine Größe, indem es andere nachahmt, sondern indem es selbst nachgeahmt wird. Ein Land muss, um groß zu sein, andere inspirieren. Dorthin gelangt es nur mit einer sich unabhängig entwickelnden Gesellschaft, in der unabhängiges Denken gedeiht. Ein Land kann nur groß sein, wenn es sich seiner Geschichte mit Wahrhaftigkeit zuwendet und wenn sich seine Gegenwart an den Rechten der Bürger misst. Größe ist mit den Hinrichtungen Tausender Häftlinge in den letzten Jahren, fast immer ohne Berufungsmöglichkeit und anschließender Ausschlachtung ihrer Organe für Transplantationen, unvereinbar. Größe ist nicht kompatibel mit der Einweisung politischer Dissidenten in psychiatrische Anstalten, weil sie unter »reformistischen Halluzinationen«, »fixen politischen Ideen«, »religiösen Exzessen« oder »übertriebenem Interesse für ausländische Moden« leiden, wie die Ärzte des Regimes bedauernd |272| feststellen. Größe ist unvereinbar mit der Besetzung Tibets und der Vernichtung seiner Kultur, und sie verträgt sich nicht mit der Hinrichtung von unbewaffneten Studenten auf den Straßen Pekings. Nein, es liegt auch keine Größe darin, die Träume von Millionen Vertriebenen zu zerstören, die nicht für das Allgemeinwohl geopfert werden, sondern zum höheren Ruhm der neuen Kaiser und ihrer zweiten Großen Mauer, des Drei-Schluchten-Staudamms.
    Die kommunistischen Führer Chinas versprachen die gerechteste Gesellschaft der Welt und schufen eine der ungerechtesten. Wie in allen Diktaturen zerfraß ihre Tyrannei die Gesellschaft von innen bis hin zu ihrer Zersetzung. Diese Sekundärwirkung ist allen Diktaturen gemein und nicht immer so offenkundig wie im Extremfall Nordkorea. Im Gegenteil, häufig bleibt diese innere Fäulnis dem Besucher verborgen. Die Bevölkerung wird permanent überwacht, doch niemand weiß, wer die Überwacher sind, und diese Anonymität schafft allseitiges Misstrauen. Der ständige Zweifel über die Vertrauenswürdigkeit des anderen steigert die Angst, sich von der Herde zu entfernen, auf Distanz zu gehen, denn die Bedrohung lauert überall und bleibt doch ungreifbar. Mit der Zeit vertraut niemand mehr einem anderen, manchmal nicht einmal mehr den Freunden, alle beäugen sich wechselseitig mit Argwohn. Die natürliche Neigung, zuerst die eigene Haut zu retten, verstärkt sich, der Egoismus triumphiert.
    Eine solche Gesellschaft ist vergiftet, und gerade dieses Gift ist das Lebenselixier des Regimes. Als Besucher ist man vielleicht darüber informiert, dass es dort Misshandlungen gibt und die Freiheit unterdrückt wird, doch meist sieht man nicht mehr als die Oberfläche, den äußeren Charakter der Diktatur, nur selten gelingt es, tiefer in die Gesellschaft einzudringen.
    *
    Auf einer Reise in den Landkreis Changle in der Küstenprovinz Fujian konnte ich erleben, bis zu welchem Grad eine Diktatur die |273| Gesellschaft korrumpieren kann. Es war Juni 2000, gerade waren im britischen Hafen Dover die Leichen von 58 chinesischen Immigranten gefunden worden, erstickt im Inneren eines Lastwagens vom Festland. So sehr sich die Möglichkeiten in China bereits verbesserten, suchten doch etliche junge Menschen noch immer ihre Zukunft in Europa, den USA oder Australien. In einigen Dörfern waren vier Fünftel der Bevölkerung ausgewandert.
    Ich besuchte die Familien von zwei der Opfer von Dover in dem 300-Seelen-Dorf Cang Xa. Am Vortag hatte das Dorf seine Toten beweint, die Hongkonger Presse brachte Fotos der völlig in Trauer aufgelösten, ekstatisch wehklagenden Mütter. Die Schleuser hatten ihren Kindern versprochen, sie auf einem mit Seide beladenen Schiff nach Europa zu schmuggeln, mit Klimaanlage, ordentlichen Mahlzeiten und Bier für alle. Tatsächlich hatten sie wochenlang nahezu ohne Nahrung in einem rostigen Container von 13 Meter Länge hausen müssen, bis sie in den Niederlanden eintrafen. Dort hatte man sie dann in den Lastwagen gepfercht, in dem sie erstickten.
    Als ich in Cang Xa ankam, traf ich die Mütter, die noch am Vortag völlig am Boden zerstört gewesen waren, ernst, aber äußerst gefasst an. Einige lächelten. Ich versuchte, sie zu

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