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Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Jimenez
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Einkommen hat und ihren Platz im Leben findet. Aber wir haben immer geglaubt, wenn aus ihr eines Tages eine große Pianistin würde, dann würde sie die Mühen kompensieren können, die ihre Eltern für ihren Erfolg auf sich genommen haben.«
    Niemand könnte sagen, in welchem Augenblick die Musikerin Chaojun anfing, auf der Stelle zu treten. In den ersten Jahren besaß sie die Fähigkeit, die Erklärungen der Lehrer mit Leichtigkeit umzusetzen und die Übungen exakt zu wiederholen. Sie konnte stundenlang üben und beklagte sich nie. Jetzt, wo sie ihre Technik perfektioniert hat und der Augenblick gekommen ist, um einen weiteren Schritt voranzutun, findet sich für sie kein Platz. Als der Geiger Isaac Stern einige Jahre nach seiner Chinareise von 1979 auf Einladung des Regimes, das die klassische Musik wiederbeleben wollte, in das Land zurückkehrte, fand er, dass sich viele der Wunderkinder, die ihn am Schanghaier Konservatorium damals so beeindruckt hatten, nicht weiterentwickelt hatten. In einem bestimmten Alter wurde es für die kleinen chinesischen Musiker schwer, voranzukommen.
    Einige Zeit, nachdem ich Chaojun kennen gelernt hatte, besuchte ich die Werkstatt von Zheng Quan, der als Musiker während der Kulturrevolution verfolgt worden war. Er hatte die Säuberungen überlebt und war zu einem der besten Geigenbauer der Welt geworden. Zheng lieferte mir eine Erklärung für das Phänomen. Die chinesische Erziehung, erläuterte er, hebe sehr stark auf die |270| Technik und das Üben ab, doch sie fördere nicht Imagination, Improvisation und Kreativität.
    Die Kommunistische Partei verschlimmerte diese mechanische und monotone Form des Lernens noch, denn sie lebte in steter Angst vor unabhängigen Geistern, schließlich beruhte ihr Machterhalt darauf, dass sie selbst das Denken übernahm und alle übrigen ihr wie Schafe folgten. Mittlerweile baute China Dutzende neuer Konzertsäle, es stellte mehr Klaviere her als der Rest der Welt zusammen und hatte 20 Millionen Musikstudenten, die genau wie Chaojun versuchten, Stars zu werden. Obwohl dies einigen Wenigen gelang, schien dieser Erfolg weniger die Frucht allseits verbreiteter Virtuosität als vielmehr der schieren Masse zu sein, die unvermeidliche Folge der Wahrscheinlichkeitsgesetze in einer Generation, die sich wie keine andere in der chinesischen Geschichte der Musik verschrieben hatte. Was wurde aus den vielen anderen, die trotz aller investierten Zeit und der vielen Opfer auf der Strecke blieben?
    »Wir Chinesen sind nicht gut darin, unseren Gefühlen öffentlich Ausdruck zu geben«, glaubt Zheng. »Und was ist Musik anderes als der Ausdruck von Gefühlen, eine Form wie jede andere, seine Gefühle mitzuteilen?«
    Damals, als Chaojun in ihrer Wohnung im Bezirk Jing An für mich spielte, hatte ich sie gefragt, was sie beim Spielen fühle. »Ich spüre nichts, ich spiele nur«, hatte sie geantwortet. Vielleicht geschah mit ihr dasselbe wie mit den Schülern des Konservatoriums, die Stern auf der Stelle treten sah. Als Kinder wurden sie schnell zu guten Pianisten, doch wenn die Zeit kam, ihren Gefühlen musikalisch Ausdruck zu geben, schafften sie es zum Teil deshalb nicht, weil sie dazu erzogen waren, ihre Gefühle im Zaum zu halten, und in ihrer geistigen Entwicklung nicht über konventionelles Denken hinausgelangt waren. Ihnen war nicht beigebracht worden, die Musik zu hören. Vielen dieser jungen Musiker fehlte etwas Wesentliches, um sich zu entwickeln und schöpferisch zu werden, in der Musik wie im Leben: Freiheit.
    War es möglich, dass Chaojun dasselbe fehlte wie ganz China?
    |271| Der Fleiß und Unternehmergeist der Chinesen hat bei mir seit langem die Zweifel zerstreut, dass es dem Land misslingen könnte, materiellen Wohlstand zu schaffen, mag es auf dem Weg dorthin auch noch einige Male ins Straucheln kommen und weiterhin Führer hervorbringen, die von der Macht geblendet sind. Doch die 157 chinesischen Kaiser, die Nationalistenführer Sun Yat-sen und Chiang Kai-shek und sogar Mao selbst, der trotz seiner Traditionsfeindschaft nur ein weiterer Sohn des Himmels war, der 158. Kaiser, hatten alle noch etwas mehr als Reichtum für ihr Volk gesucht. Sie waren überzeugt, einer überlegenen, zur Größe bestimmten Rasse anzugehören.
    Die neuen Führer sind darin nicht anders. Sie fordern von ihrem Volk, nach Größe zu streben, aber sie versagen ihm die Freiheit, in der sich die Kreativität, die Menschlichkeit und Selbständigkeit erst entwickeln können,

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