Kinder des Monsuns
ihrem Volk verlangten, sich für das Allgemeinwohl zu opfern, da ist eine weitere Anstrengung ja wohl nicht zu viel verlangt.
Dass sich die Führer selten selbst dem Opfer angeschlossen haben, dass sie die Tragödie ihres Volkes lieber aus der Distanz |265| verfolgten, ist nur ein unwichtiges Detail, ein Beweis mehr dafür, dass der Himmelsgott nie plante, alle seine Kinder gleich zu machen. Die anderthalb Millionen Hindernisse werden langsam von einer Ecke des Landes in eine andere verfrachtet. Die Geschichte wiederholt sich in jedem Dorf. Die Polizei kommt, malt eine Linie, bis wohin das Wasser steigen wird, und fordert die Leute auf, sich zum Wohle ihres Vaterlands mit ihrem Schicksal abzufinden. Jeder möchte etwas retten. Frau Jiang das Bild von Mao und ihre Tochter; die Familie Xia die Erinnerungen an ein Leben, das drauf und dran ist, unter dem Jangtsekiang zu verschwinden.
*
Die Familie Xia lebt im Bezirk Yungyang in der Provinz Sichuan. In ihrem Dorf gibt es keine rote Linie, die anzeigt, welche Teile mit dem Anstieg des Flusses überschwemmt werden. Es gibt hier nichts – keine Häuser, Schulen, Tempel, kein Leben –, was oberhalb des künftigen Wasserspiegels liegen wird. Als es an ihnen ist, fortzugehen, gehorchen Xia Yunquan, seine Frau und die anderen 635 Dorfbewohner den Anordnungen der Regierung und finden sich, beladen mit ihrer Habe, auf einem Kai in der Stadt Chongqing ein. Schluchzend besteigen sie ein altes Dampfboot und stechen flussabwärts in See. Während das Schiff langsam davontuckert, spüren sie, wie sie sich von dem Hinterhof entfernen, in dem sie zum ersten Mal gegen einen Fußball traten, von dem Baum, unter dem sie sich als Jugendliche zum ersten Mal küssten, von dem Lokal, in dem sie ihre Hochzeit feierten, von dem Ort, an dem ihre Tochter ihre ersten Schritte machte…
Das Dampfboot durchquert das Herz Chinas, lässt die drei Schluchten Qutang, Wuxia und Xiling hinter sich, Landschaften, die von den chinesischen Dichtern so oft besungen und von den Malern so oft aquarelliert wurden, und zieht weiter den Jangtsekiang hinunter bis zum Hafen von Schanghai. Die Familie aus Yungyang wird auf die Insel Chongming in der Flussmündung gebracht. |266| Hier, so versichert ihnen ihre Regierung, wird sie ein »neues und besseres Leben« beginnen. Nach einer langen Reise ist die Familie Xia also an ihrem Bestimmungsort angekommen und findet sich in einem Haus ohne Möbel und Heizung mitten im Nichts wieder. Ihre Dorfgemeinschaft wurde über fünf Provinzen verstreut, um Demonstrationen zuvorzukommen. Ohne die geringste Spur ihres vorherigen Lebens umfängt die Familie Xia eine gewaltige Leere. Sie will in ihr altes Haus zurück.
Gegenüber auf dem anderen Ufer leuchtet das Schaufenster des neuen Chinas, Schanghai, eine im Werden begriffene Welt mit der Finanzmeile Pudong, die einem Science-Fiction-Film entsprungen scheint, mit Wolkenkratzern, die auf halber Höhe unter einer Abgasglocke verschwinden. Himmelblau erleuchtete Autobahnen winden sich durch die Häuserschluchten, hier fahren sie in ihren BMW-Limousinen mit getönten Scheiben, Konkubinen auf ihrem Schoß, die Träume der egalitären Gesellschaft Maos.
Schanghai präsentiert sich jedem Bewohner anders. Es liegt daher nicht der geringste Widerspruch darin, dass die Familie Xia, kaum das sie hier angekommen ist, sofort wieder fort will, während die Mehrzahl der Chinesen darauf hofft, so schnell wie möglich dort anzukommen. Es ist auch kein Widerspruch, dass für die Familie Xia die Träume an diesem Ort enden, während sie für die Familie Yang hier erst ihren Anfang nahmen.
*
Es sind drei Jahre seit meinem letzten Besuch bei Chaojun vergangen, doch ich habe keine Schwierigkeiten, die neue Wohnung der Yangs in Schanghai zu finden, höre ich doch schon von weitem die Klaviermusik unten auf der Straße, wie damals auf den Fluren im Kinderpalast, wo ich das Mädchen kennen lernte. Ihre alte Wohnung im Jing-An-Bezirk, wo mich die Familie an einem Nachmittag im Frühling mit Tee bewirtete und der Musik Chaojuns lauschen ließ, musste sie aufgeben. Das Viertel wurde nach und nach |267| von Geschäftszentren und Neubauten umzingelt, einer jener Orte, wo die beiden Chinas, das alte und das neue, aufeinanderprallen. Auf der einen Seite der Nanjing-Straße befanden sich die großen Schaufenster des Einkaufszentrums Plaza 66 mit der Mode der Saison von Chanel und Louis Vuitton; auf der anderen in nur 100 Meter Entfernung wohnte in einer
Weitere Kostenlose Bücher