Kinder Des Nebels
kräftezehrend. Man benötigt zum Beispiel proportional viel mehr Kraft, um sich viermal so stark wie ein gewöhnlicher Mensch zu machen, als wenn man sich nur doppelt so stark macht. Im Fall des Obersten Herrschers bedeutet das, dass er mehr und mehr Jugend brauchte, um nicht zu altern. Als Herrin Vin ihm die Armreifen abgerissen hat, ist er unglaublich schnell gealtert, weil sein Körper sofort versucht hat, wieder so zu werden, wie er eigentlich hätte sein sollen.«
Vin saß im kühlen Abendwind und schaute hinüber zur Festung Wager. Sie war hell erleuchtet. Es war noch kein ganzer Tag vergangen, und schon traf sich Elant mit den Skaa und den Anführern der Adligen und arbeitete an einem Gesetzbuch für die neue Nation.
Vin regte sich kaum; sie befühlte lediglich ihren Ohrring. Sie hatte ihn im Thronsaal gefunden und wieder angesteckt, als das Ohr zu heilen begann. Sie wusste nicht, warum sie ihn behielt. Vielleicht weil er ein Bindeglied zu Reen und der Mutter war, die versucht hatte, sie zu töten. Oder vielleicht auch nur, weil er eine Erinnerung an Taten darstellte, zu denen sie eigentlich niemals in der Lage hätte sein sollen.
Es gab für sie noch viel über die Allomantie zu lernen. Tausend Jahre lang hatte sich der Adel einfach auf das verlassen, was die Inquisitoren und der Oberste Herrscher ihm gesagt hatten. Welche Geheimnisse hatten sie verschwiegen, welche Metalle hatten sie verborgen?
»Der Oberste Herrscher ...«, sagte sie schließlich. »Seine Unsterblichkeit war also nur ein Trick. Das bedeutet, dass er kein Gott war, oder? Er hatte bloß Glück. Jeder, der zugleich Ferrochemiker und Allomant ist, hätte dasselbe tun können.«
»So scheint es, Herrin«, sagte Sazed. »Vielleicht hat er deshalb die Bewahrer so gefürchtet. Er hat die Ferrochemiker gejagt und getötet, denn er wusste, dass diese Gabe erblich ist, genau wie die Allomantie. Wenn sich die Blutlinien der Terriser mit denen des Adels vermischt hätten, dann hätte dies irgendwann ein Kind hervorbringen können, das ihm gewachsen gewesen wäre.«
»Daher also die Zuchtprogramme«, sagte Marsch.
Sazed nickte. »Er musste vollkommen sicherstellen, dass sich die Terriser nicht mit der übrigen Bevölkerung vermischten, denn dann hätten sie ihre Gabe der Ferrochemie weitergeben können.«
Marsch schüttelte den Kopf. »Sein eigenes Volk. Er hat ihnen all diese schrecklichen Dinge angetan, nur um an der Macht zu bleiben.«
»Aber«, wandte Vin ein, »wenn die Macht des Obersten Herrschers aus einer Mischung von Ferrochemie und Allomantie kam, was ist dann an der Quelle der Erhebung passiert? Was war das für eine Macht, die der Mann, der das Tagebuch geschrieben hat - wer immer das war -, dort finden wollte?«
»Ich weiß es nicht, Herrin«, sagte Sazed leise.
»Deine Erklärung beantwortet nicht alle Fragen«, meinte Vin nachdenklich. Sie hatte bisher nicht über ihre eigenen seltsamen Fähigkeiten gesprochen, sondern nur über das, was der Oberste Herrscher in seinem Thronsaal getan hatte. »Er war so
stark,
Sazed. Ich konnte seine Allomantie spüren. Er war in der Lage, gegen die Metalle in meinem Körper zu drücken! Vielleicht konnte er seine Ferrochemie verstärken, indem er die Vorräte verbrannte, aber wie konnte er so stark in der Allomantie werden?«
Sazed seufzte. »Ich fürchte, die einzige Person, die all diese Fragen hätte beantworten können, ist heute Morgen gestorben.«
Vin verstummte. Der Oberste Herrscher hatte geheime Kenntnisse über die Terris-Religion besessen, nach denen Sazeds Volk seit Jahrhunderten suchte. »Es tut mir so leid. Vielleicht hätte ich ihn nicht töten sollen.«
Sazed schüttelte den Kopf. »Der Alterungsprozess hätte ihn sowieso bald umgebracht, Herrin. Was Ihr getan habt, war richtig. Jetzt kann ich wenigstens weitergeben, dass der Oberste Herrscher von jemandem aus dem Volk der Skaa getötet wurde, welches er so unterdrückt hat.«
Vin errötete. »Weitergeben?«
»Natürlich. Ich bin immer noch ein Bewahrer, Herrin. Ich muss diese Dinge bekanntmachen: Ereignisse, Geschichten, Wahrheiten.«
»Du wirst aber nicht viel über mich sagen, oder?« Aus irgendeinem Grund bereitete ihr die Vorstellung, dass andere Menschen Geschichten über sie hören würden, ein ungutes Gefühl.
»Darüber würde ich mir an Eurer Stelle keine Gedanken machen«, sagte Sazed lächelnd. »Ich fürchte, meine Brüder und ich werden sehr beschäftigt sein. Wir müssen so vieles wiederherstellen und der
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