Kinder des Wassermanns
Wahrheit. Yria ist nicht stark. Sie kann nicht schnell schwimmen und ohne Ausruhen und Essen auch nicht weit. Und wenn wir von Tieren angegriffen werden? Wenn der Winter uns fern von den warmen, seichten Gewässern überrascht? Wenn die aus Liri Vertriebenen sich zur Arktis durchschlagen? Ich weiß nicht, wie wir sie auf unsere Reise mitnehmen können.“
„Können wir sie nicht bei irgendwelchen Pflegeeltern hierlassen?“ fragt Kennin.
Yria schmiegte sich in Eyjans Arme. „O nein, nein“, flehte sie. Es war kaum zu hören.
Kennin wurde über seine eigene Torheit rot. Tauno und Eyjan sahen sich über die gebeugten Schultern ihrer kleinen Schwester hinweg an. Es gab nur wenige unter dem Seevolk, die einen Schwächling aufnehmen würden, wo doch die Starken schon genug Mühe hatten, für sich selbst zu sorgen. Hin und wieder mochte ein Wassermann es tun, aber dann geschah es aus Verlangen. Sie konnten nicht wirklich hoffen, einen zu finden, der dieses Kind haben wollte, wie ihr Vater eine bestimmte erwachsene Jungfrau begehrt hatte, und etwas Gutes taten sie dem Kind damit auch nicht an.
Tauno mußte seine ganze Willenskraft zusammennehmen, um es auszusprechen. „Ich glaube, bevor wir aufbrechen, sollten wir Yria am besten zu dem Volk unserer Mutter bringen.“
4
Der alte Priester Knud wurde von einem Klopfen aufgeweckt. Er kletterte aus seinem Alkovenbett und legte, im Dunkeln umhersuchend, sein Gewand an, denn das mit Asche bedeckte Herdfeuer spendete kaum Licht. Dann tastete er sich zur Tür. Seine Knochen schmerzten, seine Zähne klapperten vor Kälte. Er fragte sich, wer im Sterben liegen mochte. Er hatte jeden Spielgefährten überlebt … „Ich komme, in Jesu Namen, ich komme.“
Der Vollmond war spät aufgegangen. Er warf eine quecksilberne Brücke über das Kattegat und ließ den Tau auf den Hausdächern glitzern. Aber die beiden sich kreuzenden Straßen von Alsen lagen in völliger Finsternis, und das Land dahinter war zum Tummelplatz für Wölfe und Trolle geworden. Merkwürdig ruhig waren die Hunde, als fürchteten sie sich zu bellen. Die ganze Nacht war von knisternder Stille erfüllt. Nein, irgendwo ertönte ein Geräusch. Es klang hohl. Ein Pferdehuf? Das Höllenpferd, das zwischen den Gräbern weidete?
Vier standen in einer Wolke aus ihrem eigenen Atem, so ungewöhnlich kalt für die Jahreszeit war die Nacht. Vater Knud holte tief Atem und bekreuzigte sich. Er hatte, außer dem einen, der in seine Kirche gekommen war, niemals Meerleute gesehen – es sei denn, ein in seiner Kindheit erhaschter flüchtiger Blick war mehr als ein wundersamer Traum gewesen. Doch was konnten die da anderes sein? Er hatte genug Berichte von denen unter seinen Pfarrkindern gehört, die sich dann und wann mit ihnen trafen. Die Gesichtszüge des Mannes und der Frau zeigten diesen fremdartigen Schnitt, bei dem Jungen fiel es weniger auf, und dem Mädchen war kaum etwas davon anzumerken. Doch auch von ihr tropfte schimmerndes Wasser, auch sie trug ein Hemd aus Fischhaut und hielt einen Speer mit Knochenspitze in der Hand.
„Ihr, ihr, ihr müßtet doch … fort sein.“ Die Stimme des Priesters klang dünn in der frostigen Stille.
„Wir sind Agnetes Kinder“, erklärte der große Mann. Er sprach Dänisch mit einem singenden Akzent, der in der Tat, so dachte Knud wild, ausländisch klang. „Ihres Erbteils wegen hat der Zauber uns nicht berührt.“
„Kein Zauber – ein heiliger Exorzismus …“ In Gedanken rief Knud Gott an. Er straffte die mageren Schultern. „Ich bitte euch, werft keinen Zorn auf meine Pfarrkinder. Es war weder ihr Werk noch ihr Wunsch.“
„Ich weiß. Wir haben … einen Freund gefragt, was geschehen ist. Bald gehen wir fort. Doch zuerst möchten wir Yria in Eure Pflege geben.“
Das und auch die Tatsache, daß die nackten Füße seiner Besucher, wie er sehen konnte, von menschlicher Form waren, erleichterte den Priester ein wenig. Er bat die vier herein. Sie folgten ihm ins Haus, und sie rümpften die Nase über den Schmutz und die Gerüche in dem einzigen Raum, dessen sich das Pfarrhaus rühmen konnte. Knud schürte das Feuer, zündete ein Binsenlicht an, stellte Brot, Salz und Bier auf den Tisch und setzte sich – die Besucher füllten die Bank – auf einen Schemel, um mit ihnen zu reden.
Lange dauerte dieses Gespräch. Auch als er schon versprochen hatte, sein Bestes für das Mädchen zu tun, dauerte es noch an. Ihre drei Geschwister würden eine Zeitlang verweilen, um
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