Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kinder

Kinder

Titel: Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seibold
Vom Netzwerk:
längsten, aber die Großeltern hatten sich für
Samstag und Sonntag bereiterklärt, im Haus zu schlafen – und das bedeutete für
Lukas in aller Regel fernsehen ohne Ende und Süßigkeiten satt. Dagegen kam die
Vulkaneifel zum Glück nicht an. Und damit stand der Plan, denn sie konnten sich
ja schlecht mit Kommissar Mertes treffen und ihn in Lukas’ Anwesenheit von dem
Fall des toten Internatsschülers berichten lassen.
    Das Navi wies ihnen den kürzesten Weg, und nachdem sie eine
serpentinenreiche Strecke den Hang hinauf hinter sich gebracht hatten, sahen
sie am verabredeten Treffpunkt einen Mittelklassewagen halb unter den Bäumen verdeckt
neben dem Straßenrand stehen. Rainer Pietsch ließ das Auto daneben ausrollen.
Als sie ausstiegen, öffnete sich die Fahrertür des anderen Wagens und ein Mann
Anfang fünfzig kam heraus: groß, gerade noch schlank und das schüttere Haar
streng nach hinten gekämmt.
    »Herr Mertes?«
    »Ja«, sagte der Mann knapp und gab ihnen die Hand. »Sie wissen, dass
mich das den Job kosten kann?«
    »Ja, und wir sind Ihnen sehr dankbar für Ihre Hilfe.«
    »Schon gut, aber Sie reden mit niemandem über dieses Treffen,
verstanden? Und mich haben Sie am besten nie gesehen.«
    »Geht in Ordnung.«
    Annette Pietsch sah sich um.
    »Warum treffen wir uns eigentlich hier?«
    Mertes deutete auf einen schmalen Pfad, der in den Wald
hineinführte.
    »Hier ist Kai vermutlich lang gelaufen, damals, am Abend seines
Todes. Kommen Sie mit.«
    Er tauchte ins Dämmerlicht des Waldes ein, und das Ehepaar Pietsch
folgte ihm. Der Weg ging mal mehr, mal weniger steil bergauf, und als sie
schließlich über einige Dornenranken stiegen und sich zwischen dichten Zweigen
hindurchschoben, verschlug ihnen die Aussicht die Sprache.
    »Das dort drüben ist das Internat«, sagte Mertes, als sie alle
wieder etwas zu Atem gekommen waren. »Und das da vorn ist die Stelle, an der
Kai vor zwei Jahren abstürzte.«
    Mertes ging zu einem großen Felsbrocken kurz vor dem Abgrund,
kletterte auf den Stein und setzte sich auf seine flache Oberseite.
    »Kommen Sie ruhig her, von hier aus können Sie alles gut
überblicken.«
    »Nein, danke«, sagte Annette Pietsch und blieb auf halbem Weg zu dem
Felsblock stehen. »Mir reicht der Blick von hier.«
    Rainer Pietsch setzte sich neben Mertes auf den Stein.
    »Höhenangst?«
    »Ja«, sagte Rainer Pietsch. »Und hier haben Sie keine Spuren
gefunden?«
    »Zumindest nichts, was auf einen Streit oder die Anwesenheit einer
anderen Person hingedeutet hätte. Es hatte geregnet, da war ohnehin nur noch
wenig zu finden.«
    »Könnte Kai dann nicht auch einfach auf dem nassen Untergrund
ausgerutscht sein?«
    »Es hat zu regnen begonnen, als er schon ein paar Stunden tot dort
unten lag. Davor war es hier oben knochentrocken.«
    Rainer Pietsch nickte und sah zu der Kante hin, hinter der es
senkrecht nach unten ging.
    »Und warum könnte er hier heraufgekommen sein?«
    Mertes zuckte die Schultern.
    »Hatte er Probleme?«
    »Die Noten waren ganz ordentlich, wenn Sie das meinen. Die Eltern wussten
auch nichts Besonderes zu berichten, Kai hat wohl zu Hause nicht sehr viel von
der Schule erzählt. Und von seinen Mitschülern und den Lehrern war praktisch
gar nichts zu erfahren: normaler Schüler, normal beliebt, so was halt. Kein
Wunder eigentlich, die halten alle zusammen im Internat. Und die Schule stand
ja sozusagen im Zentrum der Ermittlungen.«
    »Wegen der anderen Toten?«
    »Ja. Aber wie ich Ihnen schon am Telefon gesagt habe: Es hat sich
kein Ansatz ergeben, Kai scheint einfach verunglückt zu sein.«
    Sie sahen ein paar Minuten auf den Wald und die Hügel vor sich und
sagten nichts.
    »Was war mit den anderen Kindern?«, fragte Rainer Pietsch dann.
    Mertes erzählte. Die Bilanz war erschütternd: Vor vier Jahren
erhängte sich ein Mädchen aus der siebten Klasse im Keller des Internats, vor
drei Jahren wurde ein Schüler der Oberstufe auf dem Weg vom Schulhof nach
draußen von einem Auto erfasst und getötet, der Fahrer beging Unfallflucht und
konnte nie ermittelt werden. Und vor zwei Jahren kamen vier Schüler innerhalb
eines Schuljahres um: Kai Wirsching stürzte vom Ziegenhorn; eine Schülerin der
achten Klasse vergiftete sich mit Blausäure, die aus einem aufgebrochenen
Schrank im Chemiesaal stammte; ein Fünftklässler lag eines Morgens tot im
Apothekergarten des Internats, nachdem er offenbar aus einem Turmfenster
gestürzt war; und ein Mädchen aus der neunten Klasse erhängte sich

Weitere Kostenlose Bücher