Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf
Witz. Im Obergeschoss fühlte er sich besser, aber in Sicherheit, das spürte Christoph, war er nur auf dem Dachboden. Die schmale Zugtreppe hochgeklappt, schien die Welt dort oben eine andere.
Durch das kleine runde Fenster an der Vorderseite konnte er manchmal Roberts Mutter schreien hören. Seine Eltern wussten natürlich nichts davon, und das war auch gut so. Sein Geheimnis war so rein und ungetrübt wie es nur die Geheimnisse von Kindern sein konnten.
Hier oben stellte sich Christoph vor, er sei Houdini, der große magische Mann, der alles konnte und sich vor nichts fürchtete. Oder Fantomas, der aus dem Schatten kam. Ein zerrissenes Leintuch wurde zu seinem Umhang, er, der weiße Ritter. Sein unsichtbares Pferd hieß Rauchfang, ein schöner Name, wie er fand.
In den Sommermonaten war es unerträglich heiß auf dem Dachboden. Bienen und Wespen surrten durch die schmalen Ritzen.
»Ich kann euch alle besiegen«, flüsterte Christoph.
Onkel Hubert murmelte Gebete aus der Küche.
»Rauchfang, Fantomas, weißer Ritter!« Christophs Arme wedelten in der Luft.
Im blind gewordenen Spiegel in der Ecke sah er keinen Jungen, sondern den Unbesiegbaren, einen Mann mit mutigen Augen, so klar wie ein Sternenhimmel im August. Staub, der empor wirbelte, Sonnenstrahlen wie Lichtblitze. Sein Körper überzog sich mit Schweiß, sein Mund wurde trocken, er bekam großen Durst, aber er wollte, konnte nicht aufhören. Weit aufgerissene Augen, seine dunklen, fast schon schwarzen Haare, klebten am Kopf. Er tanzte und tanzte wild umher, die Turnschuhe stampften hart auf den knarrenden Holzbrettern.
In der Schule trank Christoph nie etwas. Er hatte Angst, sich in die Hose zu machen, so wie damals in der ersten Klasse, als er es nicht rechtzeitig geschafft hatte, seine Jeans zu öffnen. Seine Mutter hatte ihn abgeholt und zwei Tage lang nicht mehr mit ihm gesprochen.
Zwar hatte er jeden Tag eine Tüte Sunkist-Saft in seiner Schultasche, gab sie jedoch immer an Sara weiter, deren Mutter kein Geld für so einen Unsinn ausgeben wollte .
Sara war sein Schatz, er hatte sie so gerne, dass er nicht wusste, was er sagen sollte, wenn er neben ihr stand. Vielmehr war es ein gutes Gefühl, einfach neben ihr zu stehen und ihre Haare zu riechen. Vielleicht würde er sie sogar eines Tages küssen, richtig küssen, auf den Mund, wie es die Männer und Frauen im Fernsehen taten. In den Dämmerzeiten stellte er sich das vor, und es waren gute Gedanken. Wie sich alles verändern konnte, wenn man nur fest daran glaubte.
Die Wespen setzten sich auf seine Haut, tranken seinen Schweiß, krochen unter sein T-Shirt, in seine Hose. Surrten leise und bedrohlich. Und stachen zu, immer wieder.
Die Schmerzen verebbten so schnell wie sie gekommen waren, winzige grelle Blitze zuckten durch Christophs Körper. Seine Zunge schwoll an, füllte seinen Mund aus. Er versuchte zu sprechen, es gelang nicht, jedes Wort undeutlich und verwaschen. Er taumelte zwischen den alten Kleiderschränken, stolperte über Pappkartons, fiel zu Boden. Und wurde endlich wieder zu dem weißen Ritter, der auf seinem Pferd angeritten kam, um das Mädchen zu befreien, das er liebte.
Onkel Hubert verstummte und verschwand.
Drei Tage vor Allerheiligen
Herbst 1973
Die ersten Gewitter des Herbstes zogen über die Stadt. Während die alten Männer vom ersten Schnee sprachen (sein Kommen konnten sie in ihren Gelenken spüren), ging Murr am späten Nachmittag, so wie jeden Tag, hinunter zum Kinderland. Jeder wusste davon, aber niemand hatte ihn je nach den Gründen gefragt. Natürlich gab es allerlei Vermutungen und Gerüchte, schließlich war dies eine kleine Stadt, über welche sich die Dunkelheit unauffällig legen konnte. Sein eigenes Kind hätte Murr dort hingebracht, hieß es, einen nur wenige Wochen alten Säugling. Andere erzählten, er würde dort um Mitternacht nach vertrockneten Kinderherzen suchen, wieder andere schüttelten nur ihre Köpfe und sagten:
Der ist verrückt, das ist alles
. Erzählungen, die man an Wintertagen in kalt gewordenen Küchen flüsterte, sobald es wieder einen der zahlreichen Stromausfälle gab. Die Überlandleitungen waren alt und die Stürme tosend. Vor einigen Jahren war der Strom einmal über drei Wochen ausgefallen. Dann erst kamen Techniker aus München, um alles wieder in Ordnung zu bringen, und dann erst fand man die alte Lehrerin Erlinger tot in ihrem Wohnzimmersessel.
Drei Tage vor Allerheiligen, kalte Ostwinde wirbelten, ging Murr also
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