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Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf

Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf

Titel: Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Lorenz
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glaubte ohnehin nicht daran, dass irgendjemand in dieser Stadt gut war, zumindest keiner von den Erwachsenen.
    »Ah, ist heute wieder Zahltag, was?« Der Aufseher saß auf einem alten Klappstuhl, das schwarze Bein dünner als das andere, neben ihm ein Gewehr, mit dem er auf Ratten und Krähen schoss, wenn ihm langweilig wurde.
    »Du darfst mich Jesus nennen«, hatte er bei der ersten Begegnung zu dem Jungen gesagt, vielmehr geflüstert.
    Das kleine Haus hatte nur ein Zimmer. Dort saßen sie. Verwilderte Katzen, die sich an die Beine des Jungen schmiegten. Ein altes schmutziges Bett ohne Laken, dutzende leere Bierflaschen. An den groben Holzwänden von Fliegendreck überzogene Nacktbilder (sein Vater nannte sie Tittenbilder, wenn er zu viel getrunken hatte).
    »Für fünf Mark will ich natürlich was sehen«, hatte der Aufseher beim ersten Mal gesagt. Draußen, und das sollte Robert nie vergessen, summten Wespen um das Dach. Einige von ihnen krochen durch die Fugen ins Haus und krabbelten über die fleckige Zimmerdecke, während Robert seine Hose öffnete und sie bis zu seinen Knien herunterzog.
    Das fehlende Geld hatte er meistens wieder zurücklegen können. Natürlich hörte das Schreien seiner Mutter dadurch nicht auf, aber er hatte weniger Angst, sie könnte ihn umbringen. In seinem Baumhaus wusch er sich jeden Tag, egal ob er auf der Müllhalde gewesen war oder nicht. So oft, dass seine Haut rot wurde und sich abschälte. Wachte von Tagträumen auf, in denen er seine Hose hochzog und sah, dass seine Beine schwarz und dürr geworden waren. Die Schreie verschluckend blickte er über die Felder und Wiesen und wünschte sich, kein Kind mehr sein zu müssen. Wünschte sich mit den Sommerwinden fortgetragen zu werden, in eine andere Zeit, weg von hier, von diesem absonderlichen Ort.
    Dafür betete er, während das dumpfe Knallen der Gewehrschüsse von der Müllhalde zu ihm herüberwehte.
     
    Christoph
    Er hatte in einem Comic davon gelesen. Der große Zauberer Houdini hatte sich aus jeder Fessel befreien können, selbst wenn man ihn kopfüber über einen Wasserfall gehängt hatte. Den Comic hatte er auf dem Dachspeicher gefunden, zwischen alten Büchern und Zeitschriften, die niemand mehr brauchte.
    Seine Eltern arbeiteten in Murrs Zigarettenfabrik, und so war er die meiste Zeit alleine zu Hause, jedenfalls so gut wie alleine. So auch an diesem spätsommerlichen Nachmittag.
    Sobald Christoph nach Hause kam, rannte er die Treppe nach oben, ohne auch nur einen Blick in die Küche zu werfen. Vor fünf Jahren hatte sich dort sein Onkel Hubert erhängt. Früher war er wohl sehr häufig zu Besuch gekommen, von Teufeln auf der Straße flüsternd, die Taschen vollgestopft mit Kruzifixen und Weihwasserflaschen. Sein Gerede wurde immer merkwürdiger – eines Tages schlug er allen Anwesenden vor, nur noch den eigenen Urin zu trinken, um Erlösung zu finden. An einem Neujahrstag, Christophs Eltern waren gerade runter zu den Erbers gegangen, hatte er seine Schuhe auf das Fensterbrett gestellt, sich ausgezogen, seinen Gürtel um den Hals geschnürt und das andere Ende an der Türklinke festgemacht. Natürlich rief niemand die Polizei. Erst nachdem sie es zwei Stunden später geschafft hatten, die Küchentür aufzustemmen (Huberts Finger hatten sich unter dem Türspalt eingeklemmt), wurde Doktor Grüner gerufen, der Hubert dann offiziell für tot erklärte. Man einigte sich auf Herzstillstand. Friedlich verschieden während des Mittagsschlafes. Der einzige Leichnam mit Handschuhen im Sarg, als hätte er kalte Hände.
    Kindern glaubt man natürlich nicht, wenn sie tote Menschen in Küchen sitzen sehen. Christoph aber sah seinen toten Onkel. Nicht jeden Tag, aber doch oft genug, um Angst davor zu haben, die Küche zu betreten. Es war besser, wenn seine Eltern zu Hause waren, wenngleich sogar dann Onkel Hubert manchmal neben ihm saß und Dinge flüsterte, die nur er hören konnte. Aber wenn er alleine war, konnte Christoph sicher sein, dass Hubert in der Küche saß. Den Kopf gebeugt, kleine schimmernde Fliegen, die aus seinem Mund kamen. Die Haut fahl und gelblich verfärbt, seine Beine mit Leichenflecken übersät und dick, an manchen Stellen aufgeplatzt.
    Dann rannte Christoph so schnell er nur konnte die Treppe hinauf, dachte dabei an die Jerry Lewis Filme, die er so gerne mochte, und die er manchmal im Fernsehen ansehen durfte. Die Edgar Wallace Filme im Abendprogramm waren gegen den in der Küche sitzenden Onkel Hubert ein

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