Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf
immer, wenn er hier unten war. Sie hatten alle Kinder hierher gebracht. An die meisten hatte er sich hängen müssen. Nachts wachte er auf und sah sie, dort vor dem Fenster, mit aufgerissenen Augen. Sie blickten ihn an, blickten tief in seine Seele. Jede Nacht, nachdem sie unten am Fluss gewesen waren, hatte er sich hinausgeschlichen. Ihre schweren nassen Körper in eine flache lehmige Grube gelegt, sie so gut es ging mit Erde bedeckt. Herzen aus bemaltem Karton auf ihre Bäuche gelegt, die Augenlider verschlossen, sofern es ging.
Natürlich hatte er Angst gehabt, auch eines Tages auf den Stuhl neben dem Bett steigen zu müssen, und er würde nicht zu leicht sein, und wenn er es sein würde – und dessen war er sicher – würde sich sein Vater an ihn hängen, den Rosenkranz in der Hand.
Sein Vater aber kam nicht zu ihm.
Die Gespenster schlichen durch die Nächte seiner Kindheit, zogen an seiner Bettdecke, kitzelten seine Füße. Und sie träumten zusammen einen wundervollen Traum, dass jeder Mensch für das bezahlen muss, was er getan hat. Vor allem sein Vater. Der Junge flehte sie an:
Nehmt ihn mit, nehmt ihn weg.
Sie öffneten das Fenster zum Neumond hin, sangen die Mitternachtslieder seiner Träume. Nein, er wollte kein schlechter Junge sein, kein böser Mensch. Nebenan im riesigen Arbeitszimmer, sein Vater hinter dem mächtigen Schreibtisch brütend. Tote präparierte Vögel an den Wänden, mit Glasaugen und gelben Schnäbeln. Dorthin ging er nicht gerne, wenn ihn sein Vater rief. Die Schritte leise auf dem dunklen Teppich, der das Kind beinahe verschluckte. Seine Mutter, die im Wintergarten neben dem Wohnzimmer saß und über den Grabhügel ins Nirgendwo starrte. Die Hände in den Schoß gelegt, wartend auf die Dämmerung und auf die Nacht.
Nicht lange, nachdem alle Kinder weg waren, ihre Kleider lagen immer noch und für alle Zeit in seinem Schrank, schreckte er mitten in der Nacht empor, geweckt durch einen Knall, als hätte jemand neben seinem Kopf eine schwere Tür zugeschlagen.
»Er hat’s getan, er hat’s getan, er hat’s getan! Hänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein.«, flüsterten Stimmen. Und da wusste der Junge plötzlich, was geschehen war. Er musste nicht aufstehen, um nachzusehen. Sein Vater würde hinter dem Schreibtisch am Boden liegen, sein Revolver neben ihm. Das Blut an der Wand und auf dem Teppich, ein ausgefranstes schwarzumrandetes Loch in der Stirn. Aufdringlicher Geruch von Kupfer und Schwarzpulver, eine kleine Rauchschwade im Zimmer, die durch den kleinen Schlitz am Fenster nach draußen verschwand.
Er schloss die Augen und schlief wieder ein. Und zum ersten Mal in seinem Leben hatte der kleine Murr keine Alpträume.
Zum Grab seines Vaters war er nie gegangen, das Zimmer, in dem sich sein Vater erschossen hatte, betrat er nicht mehr. Alle sprachen davon, dass der alte Murr ein guter Mensch gewesen sei, ein großer Mann. Den Judenkindern hatte er ein Zuhause gegeben, und obwohl sie alle sehr krank geworden waren, hatte er versucht, sie zu retten. Auf seinem Grab blühten Rosen, der Weihwasserkessel war stets gefüllt .
Doch der Junge wusste mehr, auch Dinge, die er nur geträumt hatte. Sie alle sahen weg, wenn sie hinsehen sollten, ihre Augen trübe und blind, ihr Mut verkrochen in Mäuselöchern und Rattennestern, ihre Wahrheiten geschwärzt von den Bränden in ihren Herzen. Seine Mutter betete ohne Unterlass Rosenkränze, kniete auf grobem Leinen vor dem Kruzifix neben den Heiligenbildern. Doch er selbst bewegte nur seine Lippen, wenn er neben ihr knien musste. Verfluchte sie alle auf ewige Zeit. Und nachts, wenn sie schliefen und die Stadt dort unten dunkel geworden war, schlich er hinaus, sprang über die Dächer, kletterte von Dachrinne zu Dachrinne, ritt auf den Nachthunden davon. Schlüpfte durch die engsten Winkel, verbarg sich in den Schattengebilden. Klopfte an Fenster und Türen, so leise, dass die Bewohner meinten, eine Katze würde um Einlass bitten. In den Häusern Licht, schlaftrunkene Männer und Frauen, aus Fenstern gelehnt. Sahen hinab und sahen einen Jungen, der beinahe aussah wie Murrs Junge, aber es doch nicht sein konnte. Vielleicht ein Zigeunerjunge, den die Wölfe zurückgelassen hatten, ein Kind, das vom Pferdewagen gefallen war und Unglück über sie bringen würde. Das böse Zeichen, der böse Blick.
»Die Judenkinder sind nicht im Himmel. Die Judenkinder sind nicht im Himmel!«, rief der Junge dort unten auf dem nassen
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