Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf
abermals zu den Bachausläufen in der Senke, ausgespült von Regenfällen, ausgehöhlt von den Hochwassern der letzten Jahre. Die Bäume hier unten waren krank, ihre Äste dürr. Ein Ort mit dichtem Unterholz, den alte Hunde zum Sterben aufsuchten, wo angefahrene Katzen verendeten, ihre zerquetschten Beine nach sich ziehend.
Sein Vater Johann Murr, ein untersetzter Mann mit wenig Haaren auf dem Kopf, war mit ihm beinahe jeden Tag hier gewesen, in einer fernen Kindheit, trübe und verhangen. Damals war der lehmige Boden noch fester, die Bäume noch höher und die Bachrinnen voller. Alles war ein wenig anders, wenn auch nicht besser.
Sein Vater war krank im Kopf gewesen, geradeso wie es Murrs eigene Frau jetzt war. Sie saß oben im Haus und blickte auf ihn hernieder, die Hände verschränkt, betend zu ihrem eigenen Gott.
Eine gute Stadt für Menschen, in deren Kopf eine Krankheit nistet, von der man noch nie gehört hat, dachte Murr, als er sich einen Weg durchs Dickicht bahnte. Werwölfe, die am Sonntag Morgen in die Kirche gingen, um anschließend ihre Kinder zu vergessen, solange, bis sie Fremde wurden. Jeder weiß, was man in dieser Stadt mit Fremden macht.
»Die Judenkindlein, die Judenkindlein«, hatte sein Vater damals gemurmelt, sein Gesicht fiebrig, die Hand seines kleinen Sohnes fest umschließend.
»Ja«, hatte er geflüstert, hilflos, voller Furcht vor dem, was sein Vater dachte .
»Fliegen in den Himmel, hinauf. Ganz weit hinauf. In den Judenhimmel.«
»Ja.«
Neben ihnen das kleine Holzwägelchen, mit dem manchmal Zigaretten ausgefahren wurden, von der Fabrik seines Vaters in die Häuser der Leute. Früher hatte er damit gespielt, war den kleinen Abhang zu den Obstbäumen hinuntergefahren. Nun lag ein totes Kind, ein Mädchen, darauf. Die Augen offen, ebenso der Mund. Ein dunkles Mal umrundete den Hals, und auf dem noch warmen Körper lag eine Schaufel mit schmutzigem Stiel und rostigem Maul.
»Häng dich an sie, häng dich an sie«, hatte ihm sein Vater vor nicht einmal einer halben Stunde befohlen. Die Stimme ruhig, bestimmt. Der Keller ihres Hauses auf dem Grabhügel war vom Herbstregen feucht, das sauer gewordene Wasser stand bis zu den Knien. Deshalb hatten sie es in Murrs Kinderzimmer getan.
»Wenn eine Katze krank wird, muss man sie erlösen, nicht wahr?«
Sein Vater trug seinen besten dunklen Anzug und die feinen Schuhen, die er jeden Abend und jeden Morgen putzte.
Das Mädchen strampelte in der Schlinge, weil es zu leicht war, viel zu leicht, um sich mit dem eigenen Körpergewicht das Genick zu brechen. Urin floss auf die abgetretenen Holzdielen, draußen bog ein Abendsturm Bäume bis zum Boden nieder.
»Judenkindlein. Judenkindlein. Hast nie gut gegessen.« Murrs Vater schüttelte den Kopf, seufzte. »Häng dich an sie, Junge. Häng dich an sie, häng dich an sie. Häng dich an sie.« Er schrie jetzt. Seine Augen weit geöffnet, Speichelfäden am Kinn. Er stampfte mit seinen Füßen auf und schrie weiter. Schrie das Vaterunser, so laut, dass man es unten in der Fabrik hören konnte.
Der Junge stieg auf einen Stuhl und hängte sich an das Mädchen, Gesicht an Gesicht, und er roch ihren letzten Atem. Flüsterte etwas, das niemand verstand, nicht einmal er selbst.
Sieben Kinder, die sein Vater eingesammelt hatte. Von dort und da, für eine spärliche Leibrente an die Eltern. Für niedere Arbeiten im Haus und Garten, für die Schläge mit dem abgebrochenen Schaufelstiel, wenn er zu wenig Zigaretten hatte verkaufen können. Ein Schemel in seinem Arbeitszimmer, auf den sich die Kinder knien mussten, wenn es wieder soweit war. Dann zog er seine Jacke aus und sang
Schlaf Kindlein schlaf,
während sich seine Faust und mit ihr der schmutzige abgegriffene Stiel hob.
»Sie lernen beten und lernen arbeiten«, hatte er gesagt, wenn ihn jemand danach gefragt hatte. Sein Sohn aber hatte geschwiegen.
Sie legten das Mädchen in die Bachläufe, in die tiefste Stelle, wo das kalte Wasser den Leichnam umflutete. Die Schuhe des Kindes zusammengebunden an den niedrigsten Ast gehängt, so dass er die Stelle wiederfinden konnte, wenn er nach ihm sehen wollte.
»Vielleicht noch nicht morgen, aber irgendwann wird sie auffahren in den Judenhimmel. Sauber gewaschen vom Judendreck.«
Natürlich glaubte der Junge nicht daran, vielmehr fühlte er, dass sein Vater so verrückt war, dass man sich in Acht nehmen musste.
Murr stand nun, viele Jahre später, an ebendieser Stelle. Sein Herz pochte schnell, wie
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