Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf
schreien. Sie lag die meiste Zeit oben in einem der beiden Schlafzimmer, dem kleineren davon, wenn sie wieder einmal zu schwach war, um in der Küche zu sitzen. Seit seiner Geburt war sie immer wieder krank gewesen. Frauengeschichten, wie sein Vater sagte. Manchmal fand er im Badezimmer Slip-Einlagen mit dunklen Flecken und ahnte, was sein Vater mit Frauengeschichten meinte. Wenn sie oben lag, fing sie an zu schreien. Die Tür und die Fenster weit geöffnet, das Radiogerät auf ihrem Schrank leise gestellt, das grüne magische Auge gespenstisch leuchtend.
Robert war nicht sicher, ob sie wirklich krank war. Natürlich hätte er das niemals laut gesagt. Er schämte sich für diesen Gedanken und schob ihn sofort weg, sobald er wiederkam.
»Suchst du wieder nach meinem Geld?«, schrie sie, wenn Robert sich ein Glas Limonade einschenkte oder sich etwas zu essen machte, und sich damit an den mit Schulbüchern und Heften beladenen Küchentisch setzte.
»Nein, Mama, ich mache nur meine Hausaufgaben.«
»Du verlogener Balg. Du suchst nach meinem Geld! Ich breche dir die Finger, das sage ich dir. Lass es nicht darauf ankommen.«
Dabei war es sein Vater, der das Geld aus der Lebkuchen-Dose auf der Anrichte nahm, um sich damit Schnaps zu kaufen. Ein, zweimal im Monat fehlten kleinere Beträge vom Haushaltsgeld, und kurz darauf lag eine leere Schnapsflasche hinter der Garage in den Brennnesselbüschen. Vermutlich, dachte sich Robert, trank sein Vater den Schnaps, um ihre Schreie nicht mehr hören zu müssen. Ihre scheußliche Stimme, die aus einem Grab zu kommen schien. Inmitten der Sommertage, mit wehenden Gardinen und dem leisen Summen der Bienen.
Vom Baumhaus aus konnte Robert sie schreien hören, aber sobald er das Haus verlassen hatte, verklangen ihre Schreie. Wie das wütende Kläffen eines Hundes, der aufhörte, sobald man weit genug entfernt stand. Hin und wieder ein drohendes Wort, das jedoch mit dem Wind davongetragen wurde. Sie war immer schon so gewesen, an eine andere Zeit, eine glücklichere Zeit, konnte sich Robert nicht erinnern. Als er acht Jahre alt gewesen war, hatte er das Radiogerät in der Küche, den alten Körting-Kasten, ein wenig lauter gestellt, weil ihm die Musik so gut gefiel. Seine Mutter stand hinter ihm, es war sogar ein guter Tag gewesen, kein Bett-Tag mit eitrigen Einlagen, manchmal ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie hatte gerade abgespült, er konnte das Spülwasser riechen. Dann hatte sie ihm einen Kochlöffel, den sie gerade abspülte, über den Kopf geschlagen, so stark, dass er zerbrach.
»Hast du gefragt?«
»Nein.«
»Und?«
»Entschuldigung, Mama.«
»Geh rauf und bete sieben Vaterunser und sieben Ave-Maria!«
Vier Tage lang hatte Robert Kopfschmerzen gehabt, und manchmal, wenn er nachts aufwachte, glaubte er, die Anwesenheit seiner Mutter im Raum zu spüren. Geisteratem und Schreckgestalten aus dem Kleiderschrank am hinteren Ende, der kleine Spalt der Tür ein ewig geöffnetes Auge.
Von seinem Vater wusste Robert nicht viel. Ein stiller Mann, der nach dem Essen vor die Tür ging und wartete, bis die Nacht über die Stadt kam. Die Finger nikotingelb, zittrig. Ein Mann, der aussah, als würde er selbst nicht genau wissen, was ihn dazu gemacht hatte und was er hier eigentlich noch sollte. Nachts, die Welt so still, dass man die Heuschrecken im hohen Gras hinter den Häusern hüpfen hören konnte, waren sie alle Fremde in diesem Haus, in dieser Stadt. Eine Stadt, die scheinbar aufgehört hatte zu leben. Ein von Ost nach West reichender Friedhof mit geheizten Särgen, in denen sie schliefen, Tag und Nacht.
Vielleicht hätte er mit seinem Vater sprechen können, wäre er kein Fremder gewesen. Er hätte ihn bitten können, das Geld wieder zurückzulegen, damit sie nicht wieder schrie. Aber immer, wenn Robert es sich vornahm, gelang es ihm nicht. Sah den alten Mann, zermürbt wie eines der schwächlichen Kinder auf dem Schulhof, dem die stärkeren Kröten in die Hose steckten, und das weinend nach Hause lief. Er brachte es nicht übers Herz, seinen Vater zu bitten, mit dem Trinken aufzuhören. So einfach war das.
Deshalb ging Robert zum alten Aufpasser der Müllhalde, der in einem kleinen Häuschen am Rande des Schuttberges wohnte. Robert hatte gehört, dass er immer etwas Geld übrig hatte und nicht geizig war. Eines seiner Beine war so schwarz wie die Rattenfelle im Herbst, und es roch nach faulem Gemüse. Die Kinder mieden ihn, weil es hieß, er wäre böse. Doch Robert
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