Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf
angezogen und mit den Armen umschlungen. Der Sommer war in seiner besten Zeit, die Luft flirrte und der Staub auf den Straßen hatte die Farbe von Mehl angenommen. Efeu hatte sich den Weg durch die alten Bretter der Garagenwand gebahnt, und durch einen kleinen Schlitz im Holz konnte Sara den Hinterhof sehen, ein wenig weiter weg die Straße. Zwei Stühle, hastig reparierte scheußliche Teile, standen gegenüber. Sie bemerkte einige Flaschen Limonade, in denen Wespen surrten, die sich von den süßen Getränkeresten hatten anlocken lassen.
»Ja, wie die Garage. Das alles hier.« Ihr Vater lächelte und trat die Zigarette aus. »Das ist vielleicht nichts Besonderes, ich weiß. Nur eine lausige Garage, kein Herrenzimmer oder so was. Aber das macht nichts. Jeder Ort hat Geheimnisse. Auch eine Garage.«
Sara lächelte, und für einen Augenblick war es so, wie es eigentlich hätte immer sein sollen. Alles war gut.
»Soll ich dir mal mein Geheimnis zeigen? Du wirst es ihr doch nicht verraten, oder?«
Ihr Vater drehte seinen Kopf in Richtung Garten, den man durch einen kleinen Schlitz in der Wand sehen konnte. Beide hörten das Wasserrauschen eines Gartenschlauchs, hörten das gedämpfte Kreischen der Rasenmäher, hörten die auf- und zugehenden Türen dieser merkwürdigen Welt dort draußen.
Sara schüttelte den Kopf. »Versprochen.«
»Indianer-Ehrenwort?«
»Indianer-Ehrenwort!«
Leise schob ihr Vater den alten verbeulten Ölofen zur Seite, lehnte ein Brett an die Werkbank mit den tausend Werkzeugen, beugte sich hinunter und kroch durch eine kleine Öffnung. Sie alle hatten den kleinen schmalen Verschlag hinter dem Haus längst vergessen, sogar Sara, obwohl sie als kleines Mädchen dort manchmal gespielt hatte.
Ihr Vater kam zurück. Als er sich aufrichtete, konnte Sara sehen, was er in den Händen hielt. Was genau es war, wusste sie jedoch nicht.
»Setz dich«, flüsterte ihr Vater, und plötzlich schien es, als wäre er ein anderer Mensch. Seine Augen hatten sich verändert. Sie waren heller. Und sie leuchteten. »Ich wollte immer ein Kino haben. So ein richtiges Kino mit schönen Stühlen und Popcorn und Cola und Bogart und dem ganzen Zeug. Deine Mutter hält nichts davon. Natürlich nicht.«
Er stellte den Kasten auf eine Holzkiste. Sara beobachtete das merkwürdige Ding mit wachsender Neugier.
»Ist nur ein Dia-Projektor. Der Alte von der Müllhalde hat ihn mir vorbeigebracht, muss jetzt so um die zehn, elf Jahre her sein. Auch die ganzen Bilder, ich glaube es sind über ein Dutzend Kisten. Löwenzahn, nur Löwenzahn. Mehr gibt es nicht zu sehen, aber was soll’s. Ich mag die Bilder trotzdem. Soll ich dir noch etwas verraten?«
Sara würde diesen Moment nie vergessen. Die Welt dort draußen war verschwunden, nur die Vögel auf dem Dach waren zu hören. Sie nickte.
»Sie helfen gegen die Traurigkeit. Jedes einzelne davon.«
Dann schaltete er den Projektor ein.
Sara aber schloss die Augen. Sie hatte nur einen Gedanken: Sie musste die Hexenkarte finden. Damit könnte sie soviel Geld verdienen, dass sie weggehen konnten. Vater, Mutter und sie. In eine andere kleine Stadt mit kleinen Häusern. Und einem großen Kino.
Alfons
Die Leiche hatte er zum ersten Mal unten im Keller gesehen. Seine Mutter hatte ihn hinuntergeschickt, ein Glas Bohnen zu holen. Diesen Tag würde er nie vergessen. Es war Ende November, der erste Schnee längst schon gefallen und die Straßen vereist. Dies führte zu den üblichen Unfällen, und verbeulte Autos, die man erst wieder im Frühjahr herausziehen würde, steckten in den Straßengräben fest. Die Bachläufe waren mit einer dünnen Schicht Eis bedeckt, das Kinderland kahl und gespenstisch.
Das Licht im Keller war immer schon spärlich gewesen, eine nackte Osram, die zwischen Kellertreppe und Kartoffelkeller hing. In den Sommermonaten gab es hier fette Ratten, die durch die Kanalrohre kamen und sich in den Wäschekörben versteckten. Das Rattengift schimmerte grün in alten Blechdosen. Manchmal fand man eines der Tiere mit aufgerissenem Maul und starren, blutunterlaufenen Augen.
Der Junge stieg in den Keller, während sich draußen ein Schneesturm gegen die Fenster drückte. Verkehrsschilder flogen durch die Luft und streiften die Dächer. Vor drei Wochen war das Unger-Mädchen, sechs Jahre alt, nahe der Schule überfahren worden, als es die Straße überqueren wollte. Alfons hatte seine Eltern davon reden hören, als er nach dem Essen in seinem Zimmer saß. Den Atem
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