Kindermund (German Edition)
Metzger klargestellt, dass sie für meine Schulden nicht mehr aufkommen wird. Trotzdem bestelle ich weiterhin mit der Behauptung, meine Mutter würde alles bezahlen. In der Bäckerei riecht es nach Honig und Nüssen. Die Frau des Bäckers sieht aus, als wäre sie in einen Bottich mit Mehl gefallen. Nur ihre hellblauen Augen sind rot umrandet, sonst ist alles an ihr weiß. Sie lächelt schüchtern und ein bisschen traurig, während sie die Brezel in eine Serviette wickelt und mir über die Theke reicht. »Hier, schenk ich dir! Lass es dir schmecken!«, sagt ihre warme Stimme. Dafür mag ich sie.
Beim Metzger muss ich mich meistens anstellen, er hat immer viel Kundschaft. Hier drin ist es kalt, ich friere. Den Geruch nach rohem Fleisch mag ich nicht. Ich bohre meine Nase in den Stoff meines Mantelärmels. Die Frauen vor mir hören nicht auf zu bestellen: noch eine Blutwurst, einen Ring Lyoner, 300 Gramm Fleischkäse, Bierschinken, Schweinemet … »Muss das ein fettes Schwein gewesen sein, genau wie die Mami«, ruft eine Stimme durch den Raum. Ich drehe mich um. Ein kleiner Junge deutet mit ausgestrecktem Zeigefinger zur Wand hinter der Theke. Lange dicke Würste hängen dort in einer Reihe an Haken. Schlagartig verstummen Stimmen und Geräusche. Die Verkäuferinnen, die eben noch mit den Hausfrauen tratschend Würste hobelten und Schinkenscheiben aufeinanderklatschten und in Päckchen wickelten, versinken hinter dem Ladentisch. Nur vereinzelt ist unterdrücktes Kichern zu hören, und die Rücken vor mir zittern. Mein Blick wandert zu der Mutter des Jungen. Sie ist groß, dick, und ihr Gesicht ist rot wie eine Tomate. Der Jungeund ich schauen uns an, wir verstehen nicht, was so komisch sein soll. Die Mutter sieht wirklich aus wie ein Schwein. Mir gefallen die weizenblonden Haare des Jungen. Er beachtet mich nicht weiter. Langsam normalisiert sich die Situation. Die Verkäuferinnen tauchen wieder auf, eine wischt sich die Tränen von den Wangen, eine andere richtet ihre Frisur. Das Gesicht der Mutter glüht immer noch. Der Verkauf geht weiter. Ich kann ein paar Schritte nach vorne rutschen und nähere mich der Theke. Die Metzgerin steht da wie eine Säule. Auch sie ist fett. Als sie mich erkennt, fischt sie ein Wiener Würstchen aus dem Haufen, wuchtet ihren massigen Leib zu mir herunter und grinst mich breit und schmierig an: »Na, ob die Mutti das bezahlt?« Die Wurst steckt in ihren fettig glänzenden Fingern. Ich ekle mich, trotzdem greife ich danach. Der Mund der Frau ist riesengroß und fleischig. Er erinnert mich an die Nacktschnecken, auf die ich trete, wenn ich im Regen barfuß durchs Gras laufe. Die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf. Jedes Mal stelle ich mir vor, eine Nadel in diese prallen Lippen zu stechen. Sie platzen auf, und das Innere quillt hervor wie aus einer Blutwurst. Ich laufe schnell aus dem Geschäft in unseren Hof zum verfallenen Haus. Die Fenster sehen aus wie Brunnenlöcher. Vereinzelt ragen Glaszacken aus den morschen Holzrahmen. Zersplitterte Scheiben knirschen unter meinen Schuhen. Ich horche durch ein Fensterloch ins Dunkel. Kein Laut ist zu hören. Dann lege ich mein Essen aufs Fensterbrett und klettere ins Innere. Sehr vorsichtig, damit ich mich nicht schneide. Einen Moment lang verhalte ich mich vollkommen ruhig, höre auf zu atmen, lausche nochmals in die Stille. Nichts! Ich rieche und schmecke den modrigen Geruch nach Keller und feuchten Mauern. Die Steintreppe nach oben ist teilweise zerstört. Ich muss mehrere kaputte Stufen überspringen. Mein Ziel ist ein großer leerer Raum im zweiten Stock. Dort haben sie einen Korbstuhl zurückgelassen. Das Holz ist aufgequollen, er sieht verkrüppelt aus. Tapetenreste, leere Flaschen undunendlich viele Zigarettenkippen liegen auf dem Boden verstreut. Ich komme oft hierher. Beim ersten Mal habe ich den Stuhl vor ein Fenster gezogen. Seitdem ist er nicht bewegt worden. Das merke ich daran, dass am Boden um den Stuhl herum weiße abgeblätterte Farbteilchen liegen. Ich setze mich. Das Korbgeflecht ächzt, noch mehr Farbreste rieseln zu Boden. Ich beiße in die Wurst. Sie schmeckt so köstlich, ich muss sie auf einmal in den Mund stecken. Dann kommt die Brezel dran. Ich schließe die Augen und stelle mir den Geschmack von kalter Milch dazu vor. Dann würde es noch besser schmecken. Von diesem Platz aus kann ich auf unsere Terrasse schauen, sie liegt genau gegenüber: Ich sehe die Glastüren zu den Zimmern. In einer Ecke stehen verlassen
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