Kindermund (German Edition)
Die Luft knistert, und die Stimmung ist angespannt, wie immer in Babbos Gegenwart. Auch er stochert auf seinem Teller. Ich betrachte ihn heimlich. Seine lümmelnde Körperhaltung widerspricht dem Gesichtsausdruck: Die Augen flackern, er wirkt gehetzt, als sei er auf der Flucht. Auch die Kleidung passt nicht zu seinem Gehabe: dunkler Anzug, makellos, ohne ein einziges Staubkorn, weißes Hemd mit sehr hohem Kragen, überlange Manschetten, aus denen unruhige Finger hervorschauen. Ichbetrachte gerne seine Hände, ich finde sie schön. Wenn er sie bewegt, blitzen die Steine in den Manschettenknöpfen wie Sterne.
Plötzlich tritt einer der Kellner vor mich hin und verneigt sich tief. Ganz nebenbei beginnen seine Finger mit einem Tuch aus Seide zu spielen. Daraus entwickelt sich ein zarter Tanz, der sich in einen wilden Reigen verwandelt. Die Hände verschwinden und tauchen wieder auf, so flink, dass ich ihnen kaum mit den Augen folgen kann. Ich muss aufspringen und klatschen. Der Zauberer streicht mir liebevoll über den Kopf. Da schnellt Babbo vor wie eine Schlange und zischt: »Nicht anfassen!« Der Mann zuckt zusammen, sein Lächeln erlischt, das Gesicht wird dunkel. Wütend reiße ich den Löwen vom Stuhl, bohre meine Finger tief in seinen weichen Körper, meine Tränen verkleben das Fell. Babbo packt meine Hand, und wir verlassen das Restaurant.
Auf der Heimfahrt im Auto spricht Babbo kein Wort. Sein Gesicht ist verschlossen, der Blick stur nach vorne gerichtet, die Kiefer aufeinandergepresst, als kaue er auf einem Zitronenkern. Die dicken Lippen von Falten zerfurcht. Ich ziehe mich zurück, fange an, die Rippen meiner Strumpfhose zu zählen. Auf seiner Stirn quillt eine blaue Ader hervor. Plötzlich höre ich ihn prusten, lachen. Ich strahle ihn erleichtert an, schaue aber in die gleiche versteinerte Maske. Er hat sich nur geräuspert. Enttäuscht rutsche ich tiefer ins Polster und schäme mich. Meine Hand schwitzt in seiner. Er hält sie so fest umschlossen, dass es sich anfühlt, als wäre sie mit seiner verwachsen. Selbst beim Schalten lässt er sie nicht los. Das Kribbeln in meinen Fingern wird unerträglich. Ich will mich losreißen und aus dem Auto springen, aber ich traue mich nicht.
Wir sind da, er hebt mich aus dem Wagen, trägt mich ins Haus und nach oben, küsst mich noch unzählige Male und verspricht, mich bald wieder abzuholen. Dann ist er verschwunden, als sei er nie da gewesen. Ich schließe die Türauf, die Wohnung ist dunkel, ich folge dem Licht, das aus der Küche kommt. Mama sitzt am Küchentisch, das Kinn auf eine Hand gestützt. Ihre dicken braunen Locken verdecken das Gesicht, sie bemerkt mich nicht. Hat sie den Schlüssel nicht gehört? Schläft sie? Behutsam streiche ich eine Lockensträhne nach hinten, sie sträubt sich und fällt zurück. Ich klettere auf den Stuhl ihr gegenüber und schlage mit beiden Händen auf die Tischplatte. Gläser, Teller und Besteck klirren. Das Rosenmuster der Tischdecke wirft Falten. »Ich bin wieder da!« Mama zuckt zusammen. Ich ziehe die Rosen gerade.
»Erzähl mir von früher, von Babbo und dir und von mir, bitte!« Meine Mutter richtet sich auf, sie schaut mir kurz in die Augen, dann gleitet ihr Blick über meinen Kopf hinweg. Ich drehe mich um, um zu sehen, wer hinter mir steht, aber da ist nur die Wand.
M eine Mutter war neunzehn, als sie meinen Vater kennenlernte. Sie studierte Operngesang und Malerei und war sehr verträumt. Mit ihrer Freundin Therese, einer Bühnenbildnerin, verkleidete sie sich eines Abends für einen Faschingsball der Münchner Boheme. Inmitten all der Masken trafen Mama die glühenden Augen eines jungen Schauspielers. Noch in dieser Nacht nahm sie ihn mit nach Hause zu ihrer Familie und versteckte ihn in ihrem Zimmer. Weil ihm kalt war, schlich sie in die Kammer der Haushälterin, zog der Schlafenden die Decke weg und breitete sie über ihren Liebsten. Resa wachte auf, weil sie fror, und torkelte durch die Wohnung auf der Suche nach ihrer Decke. Als sie den Fremden entdeckte, entriss sie ihm ihr Eigentum, und Mama war es egal, dass sie erwischt worden waren. Zu sehr war sie ihm schon verfallen.
Mama lebte mit ihren Eltern, fünf Geschwistern, der Haushälterin Resa und mehreren Hunden in einer 8-Zimmer-Altbauwohnung im Nobelviertel Herzogpark. Die Praxis ihres Vaters lief sehr gut zu dieser Zeit, er verdiente viel Geld.
Die Verliebten konnten nicht mehr voneinander lassen. Mamas Eltern sahen misstrauisch zu. Klaus stand oft
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