Kindermund (German Edition)
Zeit alle Steine fehlen und die Samthaut abgeschabt und mit kahlen Stellen übersät ist.
Heute weiß ich, dass er mich gleich abholen wird. Ich bewundere ihn: Er ist stark und wichtig, denn alle tun, was er will. Wir fahren in Autos, aus denen Männer springen, die uns die Türen öffnen. Er kauft mir wunderschöne Kleider, wir werden in feinen Restaurants bedient. Und er besitzt die Macht, mich einfach mitzunehmen. Bei ihm bin ich Prinzessin. Aber er ist mir auch ein bisschen unheimlich. Immer reißt er seine eisblauen Augen so weit auf, dass ganz viel Weiß zu sehen ist, und fuchtelt wild mit den Armen. Aus seinem riesigen Mund kommen zuckersüße Liebkosungen und laute schmerzende Töne. Eigentlich freue ich mich gar nicht auf ihn. Warum muss ich immer mit ihm gehen, auf den Rummel, in den Spielzeugladen, zum Schneider, ins Hotel oder zum Essen?
Die Tür fliegt auf, Babbo stürzt vor mir auf die Knie, umschlingt mich mit starken Armen und presst mich an seinen Körper. Sein Geruch nach Zigaretten und Parfüm ekelt mich, ich bekomme kaum Luft. »Mein Geliebtes, mein süßes Püppchen, mein Engelchen«, haucht er. Dann bedeckt er meine Augen, meine Wangen und meinen Mund mit unzähligen feuchten Küssen. Verstohlen wische ich mir mit dem Mantelärmel übers Gesicht. Er nimmt meine Hand, umschließt sie fest mit seiner Pranke, und wir gehen hinaus. Ich werfe Mama einen flehenden Blick zu, aber sie schweigt und schaut aus dem Fenster zu den Tauben. Warum hat sie ihn hereingelassen? Mir ist, als ob meine Fußspitzen nur leicht den Boden berühren.
Er führt mich zu einem roten Auto. Heute fahren wir wieder einmal zu Spielzeug-Obletter, Münchens Kinderparadies. Dort begrüßen mich alle meine Freunde: Puppen, Zwerge, Feen, Tiere, die Prinzessin, der König. An Hexe und Teufel gehe ich schnell vorbei. Sie sind mir alle wohlbekannt von unseren Besuchen. Und nachts, wenn ich starr und stumm vor Angst im Bett liege, singen und musizieren sie so laut und machen so viel Krach, dass ich meinen betrunkenen Großvater nicht mehr hören muss.
Mein Vater sucht einen Stofflöwen für mich aus. Ich halte ihn zärtlich umarmt. Er ist so groß, dass ich den Weg vor mir nicht sehen kann.
Oft bettle ich bei Babbo, dass wir zum alten Karussell im Englischen Garten gehen. Ist es geschlossen, abgedeckt mit grauverwaschenen Brettern, drücke ich mich an das warme Holz, rutsche Schritt für Schritt die Rundung entlang, um ein Loch zu entdecken. Schon durch den kleinsten Spalt kann ich sie im Dunkeln erkennen: die feurigen Augen der Pferde, die sich aufbäumen. Den einsamen Schwan, der seine Frau so sehr vermisst. Die Gänse sind wohl beim Schnattern überrascht worden. Die Giraffe, die sie alle überragt und deshalb so eingebildet ist. Die feixenden Schweine, den höchst nervösen Vogel Strauß, die Kutsche mit der Krone auf dem Dach und natürlich die weiße halbgeöffnete Muschel, die ein Geheimnis birgt. Gierig sauge ich den bitteren Geruch der Holzbeize tief in mich ein.
Wenn wir Glück haben, ist das Karussell geöffnet, und der Klang der Drehorgel lässt meine Füße immer schneller werden. An einen Tierhals geschmiegt oder aufrecht auf dem Kutschbock, kann ich es nicht erwarten, bis wir uns endlich in Bewegung setzen. Manchmal bin ich in einer Muschel versunken und werde von acht leuchtend blauen Fischen in rasender Fahrt übers Meer gezogen. Und bald spüre ich nicht mehr, wann eine Fahrt endet und die nächste beginnt. Dann ist es oft schon Abend geworden, wenn ich die Stufen nach draußen stolpere.
Leider ist mein Vater heute sehr hungrig, und wir tauschen das Karussell bald gegen ein nobles Chinarestaurant. Um meine Enttäuschung zu verbergen, schaue ich angestrengt aus dem Autofenster.
Wir treten ein in eine fremde Welt: Silberglöckchen klingeln von weit her. Der Teppich schimmert rot. Zierliche Männer geleiten uns an einen kleinen Tisch in einer Nische. Das Licht ist gelb und müde. Fast durchsichtig, wie Grasgeister schwirren die Kellner umher, huschen davon, kommen wieder angeschwebt und sind ständig darum bemüht, uns alles recht zu machen. Ein Koch mit eingefrorenem Lächeln bereitet für uns am Tisch allerlei Köstlichkeiten zu. Es dampft und zischt. Eine Stichflamme schießt zur Decke. Die Pfanne brennt, er wirbelt den Inhalt hoch in die Luft und fängt ihn wieder auf. Vor uns werden zahlreiche Platten und Schüsseln aufgebaut. Es riecht ungewohnt, aber gut. Ich kann kaum etwas essen, alles ist so aufregend!
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