Kindermund (German Edition)
barfuß, in immer demselben, wenn auch sauberen Hemd vor der Tür. Er hatte Hunger, oft bettelte er um Geld. Von Tag zu Tag wurde er ruheloser, die Arbeitslosigkeit quälte ihn. Nachdem er in München erfolglos vorgesprochen hatte, ging er nach Berlin, klapperte dort die Theater ab, kämpfte um ein Engagement. Mama überfiel in dieser Zeit grausame Übelkeit. Es gelang ihr ziemlich lange, den wachsenden Bauch vor der Familie geheim zu halten. Als weite Männerpullover nicht mehr halfen, musste sie ihre Schwangerschaft den entsetzten Eltern beichten. Sie fühlte sich unverstanden, hatte große Sehnsucht nach ihrem Geliebten. Der beschwor sie, nach Berlin zu kommen. Sie folgte ihm, und einige Wochen darauf heirateten die beiden. Seine Wohnung war ein Speicher, dessen Tür nicht abzuschließen war. Vom ersten Tag an ließ er sie allein zwischen Gerümpel, Spinnweben und Geistern, schlief nur eine einzige Nacht bei ihr. In dieser Nacht schob er sämtliche Gegenstände vor die Tür aus Angst vor Mördern. Mama war einsam und fürchtete sich. Und sie war schrecklich unglücklich, aber sie schämte sich vor ihrer Familie und sagte lange nicht, wie schlecht es ihr ging. Eltern und Geschwister lasen Mamas Verzweiflung zwischen den Zeilen ihrer Briefe. Ihre achtzehnjährige Schwester Inge, ein wildes, eigensinniges Mädchen, das sich vor niemandem und nichts fürchtete, beschloss, nach Berlin zu reisen, um ihrer Schwester beizustehen. Eines Tages konnte Inge die ständigen Pöbeleien und Wutausbrüche ihres Schwagers nicht mehr ertragen, stürzte sich voller Hass auf den Kerl und prügelte so lange auf ihn ein, bis er verstummte. Sie muss ihm imponiert haben, denn er schlug nicht zurück. Inge war einer der wenigen Menschen, vor denen er Respekt hatte.
Dann setzten bei Mama die Wehen ein. Zu dritt irrten sie durch die Nacht und suchten ein Krankenhaus. Sie sahen so jung aus, wie Kinder, die sich verlaufen hatten. Eine Polizeistreife hielt sie an, fragte, was sie in ihrem Alter denn um diese Zeit auf der Straße zu suchen hätten. »Man wird ja vielleicht noch sein Kind zur Welt bringen dürfen!«, antwortete Mama schnippisch. Die Polizisten glaubten den dreien nicht und fuhren im Schritttempo hinter ihnen her bis zur Klinik. Dort fiel Mama erst einmal in einen Erschöpfungsschlaf. Als sie aufwachte, hörte sie Klaus toben und schreien, die Ärzte und Schwestern ließen ihn von der Polizei abführen, und Mama musste das Krankenhaus wechseln. Während der Geburt rief er dort an und brüllte ins Telefon, warum seine Frau im Hintergrund so schreien würde!
Ein Mädchen wurde geboren. Klaus eilte herbei, hielt das Kind hoch wie eine Monstranz. Er nannte es Pola, nach der Pola in Dostojewskis Schuld und Sühne .
Mit einem Baby in einem Speicher ohne abschließbare Tür, ohne Möbel, ohne irgendwelche Vorbereitungen für das Neugeborene getroffen zu haben, wurde das Leben in Berlin vollends unerträglich. Acht Tage nach meiner Geburt drückte meine Mutter eine tiefe Kuhle in ein Kopfkissen, legte mich hinein und flog mit mir und ihrer Schwester zurück zur Familie nach München. Klaus tobte derweil in Berlin. Er ertrug es nicht, dass man ihn allein zurückgelassen hatte. Bald darauf stand er in München vor der Wohnung seiner Schwiegereltern und bat um Einlass.
An einem Sonnentag wurde ich in einen uralten weißen Korbkinderwagen gelegt und im Englischen Garten spazieren gefahren. Klaus fand dieses Gefährt so unerträglich hässlich, dass er alle Gänseblümchen von den Wiesen pflückte, ins Korbgeflecht steckte und den Wagen in einen fahrenden Gänseblümchenteppich verwandelte.
In dieser Zeit war mein Vater mit Thomas Harlan befreundet und zog viel mit ihm herum. Eines Tages wurde er laut heulend wie ein Wolf von Thomas zu meinem Großvater gebracht. An seinem linken Bein klaffte eine tiefe Wunde, aus der Blut quoll. Die beiden hatten auf dem Starnberger See ein Motorboot gemietet, ohne die geringste Ahnung zu haben, wie man es manövriert. Bald verloren sie die Kontrolle, und das Boot raste führerlos über den See. In Panik sprangen sie ins Wasser. Dabei geriet mein Vater mit einem Bein an die Schiffsschraube. Thomas schleppte seinen Freund ans Ufer, wickelte Hemd und Hose um den Unterschenkel und fuhr ihn nach München in die Praxis.
Mein Großvater säuberte, nähte und verband die Wunde. Dann wurde Klaus ins Bett gebracht und von Mama gepflegt. Er lag da wie ein sterbender Schwan, mit geschlossenen Augen, stöhnte und
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