Kindermund (German Edition)
geben, sie sei doch keine lahme Ente! Geneviève tritt aufs Gas, wir rasen los: »Bist du verrückt, das ist viel zu schnell!« Sie nimmt den Fuß vom Gas, er schnauzt: »Nicht so viel!« Sie schaut starr geradeaus, ihre Bewegungen werden hektischer und verkrampfter, aber er lässt nicht locker. Jede Handlung, jede Bewegung wird kritisiert. Er wird lauter, er schreit sie an. Egal, was sie macht, er brüllt. Dann plötzlich stoppt sie das Auto mit einer Vollbremsung. Mein Vater kracht gegen den Rückspiegel, ich beiße mir auf die Lippe. Sie reißt die Tür auf, schreit: »Leck mich am Arsch!«, und stapft davon. Mein Vater jagt ihr brüllend wie ein Stier hinterher. Mich hat man vergessen. Ich klettere über die Vordersitze, steige aus der Kiste und stelle mich an den Straßenrand. Von den beiden ist nichts zu sehen. Einen Moment lang bin ich ratlos, weiß nicht, was ich tun soll. Was ist, wenn sie nicht mehr zurückkommen? Meine Sachen sind in der Wohnung. Ich habe keinen Schlüssel, keinen Pass, keinen Pfennig Geld, nichts. Was mache ich jetzt? Soll ich zur Polizei gehen? Die Autos rasen vorbei, machen einen Bogen um den Mini. Manche fahren an die Seite, rufen aus dem Fenster, ob sie mir helfen können? Ich schüttle den Kopf und warte, warte …
Endlich sehe ich die beiden die Straße entlang auf mich zulaufen. Mein Vater hat Geneviève fest im Griff. Aber sie lachen, Gott sei Dank. Wir steigen wieder ein. Dieses Mal fährt er. Mein Vater zeigt übertrieben viel von seinem Gebiss. Seine Frau schweigt. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Plötzlich hält er vor einer Apotheke: »Du musst mir einen Gefallen tun! Wir brauchen Kondome! Mein Gesicht kennt jeder in Italien! Ich kann da unmöglich reingehen und Kondome verlangen.«
Ich werde rot, ich schäme mich, aber er lässt nicht locker und drückt mir einen Geldschein in die Hand. Mir bleibt keine Wahl. Ich steige mühsam aus, schleiche mit hochgezogenen Schultern in die Apotheke und mit rotem Kopf wieder raus. Schweigend fahren wir nach Hause.
Alle sind müde. Mein Vater bereitet mir ein Lager auf dem Ledersofa im sogenannten Wohnzimmer. Sie verabschieden sich ins Bett, ich schlafe sofort ein.
Ich tauche auf aus einem Brunnenschacht, finde keinen Halt. Ich rutsche ab an den glitschigen, grün bemoosten Wänden. Der Weg nach oben ist unerreichbar.
Ich öffne die Augen, kann nichts erkennen. Ich höre ein schnalzendes Geräusch. Eine Gestalt löst sich aus der Dunkelheit, nimmt Kontur an, kommt näher: Sie hat die Fratze einer tausend Jahre alten Echse. Eine gefräßige Kröte steht breitbeinig über mir, es ist mein Vater. Nein, er ist nicht mehr mein Vater! Ich schau in eine Fratze auf vier Beinen, mit vor Gier tränenden Augen. Etwas Hartes drückt meine Beine auseinander. Ich wehre mich, strample wie verrückt. Er presst meine Hände ins Kissen, kniet auf meinen Schenkeln, ich will schreien, ich kann nicht, nur ein armseliges Gurgeln kommt aus meiner Kehle. Er ist viel stärker als ich. Ich wehre mich nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich lasse es zu.
Ich spüre mich nicht mehr. Mein Körper ist taub, mein Kopf ist taub, meine Seele ist wach, sie schreit, schreit, schreit. Niemand hört sie, auch ich nicht. Ich sehe zu, als würde ich nicht dazugehören. Mein Körper ist taub, mein Kopf ist taub. Seine Gesichtshaut, seine Lippen, leere Beutel hängen schlaff auf mich herunter. Der Geruch der Sünde, der Vernichtung legt sich auf mich.
Er stöhnt auf. Ein Ächzen, ein Wimmern über mir. Das Krötengesicht wird schwarz, es verglüht. Ein uralter Mann löst sich von mir, erhebt sich. Er schleppt sich auf die Terrasse, ich schaue ihm nach. Seine Gestalt zeichnet sich ab gegen das Grau des aufsteigenden Morgens. Er richtet sich auf. Seine Arme stemmen Gewichte.
Er stemmt Gewichte. Er stählt sich.
Erst fickt er seine Tochter, dann stemmt er Gewichte. Und die Kondome heute Nachmittag musste ich für meine eigene Vergewaltigung kaufen.
Ich trockne mit dem Laken mein von Angstschweiß und Verzweiflung nasses Gesicht. Das Laken ist klebrig, es riecht fremd. Ich spüre im Hals den Geschmack von Sünde und Schuld. Ich versuche aufzustehen. Mein Körper wird geschüttelt von einem Zitteranfall. Es hilft nichts. Ich muss sofort weg.
Ich raffe mein Weniges zusammen, schließe die Wohnungstür von außen, ziehe mich im Treppenhaus an, stopfe die Stiefel in meine Tasche und renne, renne, renne. Todesangst sitzt mir im Nacken. Ich bin sicher, der Teufel ist
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