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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pola Kinski
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hinter mir her! Meine Zähne schlagen aufeinander, ich beiße mir auf die Lippen, ich blute, ich renne weiter, weiter …
    Ob er meine Flucht schon bemerkt hat? Er wird mich suchen, wird rasen vor Wut. Ich will nicht daran denken, was er mit mir macht, wenn er mich zu fassen kriegt. Immer noch ist der Teufel hinter mir her!
    Mit dem Taxi fahre ich zum Bahnhof. Ich habe Glück, in zwei Stunden geht ein Zug nach Mailand. Zwei Stunden werde ich mich doch vor ihm verstecken können! Ich löse das Ticket, ducke mich hinter Bänke und drücke mich in Ecken, nur der pausenlose Zigarettenqualm könnte mich verraten. Noch zehn Minuten bis zur Abfahrt. Ich schiebe den Kopf aus dem Versteck, prüfe lange, ob er irgendwo lauert. Als die Luft rein zu sein scheint, rase ich zum Bahnsteig, springe in den Zug und werfe mich in den nächsten freien Sessel. Durch das Fenster überwache ich den Bahnsteig, jede Person mustere ich zweimal. Endlich werden die Türen geschlossen, wir rollen aus dem Bahnhof. In meinem Kopf schwappen Gedanken wie stinkendes Wasser.
    Ich friere, und zugleich ist mir heiß. Ich rieche die Angst, die aus meinen Poren drängt, und doch spüre ich mich nicht.Ich fasse nach der Glut der Zigarette, ich spüre sie nicht. Ich berühre wie zufällig die Hand des Schaffners, als ich ihm die Fahrkarte zeige, ich spüre ihn nicht. Ich zwicke mir in die Wange, ich spüre mich nicht. Ich befinde mich in einer Kugel, sie ist durchsichtig. Eine Haut wie eine Seifenblase trennt mich vom Leben.
    Gott ist böse auf mich, er wird mich bestrafen mit dem Tod.
    Gestalten in Mönchskutten, ohne Gesicht, schleppen meinen Körper in einen Hof, fesseln meine Haare an einen Pferdeschweif. Das Pferd wird mit Peitschenschlägen über Steine und Felsen gejagt. Mein Schreien geht unter im Hufgetrappel des Tieres in Todesangst. Der Boden bebt.
    Sie binden meinen leblosen Körper kopfüber an einen Fleischerhaken wie ein Schwein. Dann schlitzen sie mich auf, vom Schambein bis zum Kinn, und warten bis ich ausgeblutet bin, kein einziger Tropfen sich irgendwo verfangen hat. Die Reste werfen sie auf den Müll.
    Ich stürze aufs dreckige, stinkende Zugklo, ramme mir die Finger tief in den Rachen. Ich muss die Sünde loswerden, auskotzen. Sie darf nicht an mir haften bleiben, nicht eins werden mit mir.
    Wie ferngesteuert steige ich in Mailand aus dem Zug, treffe meine Freunde. Zwar sehe ich die hellerleuchteten Höfe in Mailands Altstadt, in denen Theater gespielt wird, sehe die pulsierenden Haufen von Menschen in den Straßen: bunt, fröhlich, aber ich kann nicht daran teilnehmen, ich bin getrennt von ihnen. Ich spüre sie nicht, ich spüre mich nicht, ich spüre nichts.
    Zeitweise halte ich mich in einer Plattenbausiedlung außerhalb von Mailand auf; ich weiß nicht bei wem und mit wem. Dann leben einige Leute aus der Truppe und ich ein paar Tage in einer Villa über Genua bei einem Lateinprofessor und schlafen später auf der Erde beim Musikfestivalam Comer See, aber wo ich auch bin, was ich auch tue, in meinem Kopf ist immer nur Schlamm, grau, grün, trübe.
    Der Bus spuckt mich an einer Kreuzung in München aus. Die Ampel ist rot, sie glüht, sie brennt, sie verbrennt mich. Die Straße reißt ihr Maul auf. Vor mir gähnt der Abgrund: die Gewissheit, dass ich jetzt, in diesem Moment, auf der Stelle sterben muss. Dass mein Herz stehen bleibt. Ich kann nicht atmen, ich ziehe hektisch die Luft ein. Sie bleibt im Hals stecken, die Tür ist wieder zu. Ich will die Todesangst hinausbrüllen. Die Panik, zu ersticken, hindert mich daran. Um die Ecke wohnt ein Freund. Ich klingle Sturm, bitte ihn, heute Nacht bei ihm schlafen zu dürfen. Ich bin in einer Glaskugel. Ich sehe, dass er mir die Hand gibt, aber ich spüre sie nicht. Ich will sofort schlafen, will vergessen. Der Schlaf wird die Todesangst verschlingen. Morgen früh wird wieder alles normal sein.
    Der Traum aus der Eisenbahn, die gesichtslosen Gestalten in Mönchskutten suchen mich heim. Das Licht ist grell, ich liege im Nassen – ich habe ins Bett gepinkelt. Ich zieh mich an, ich fliehe aus dem Haus. Der Freund ruft mir nach: »Pola, bist du verrückt geworden?«
    Ich bin verrückt geworden. Ich habe Angst. Ich habe Todesangst. Ich werde sterben. Ich habe Angst, dass Gott mich tötet. Ich spüre bei jedem mühsamen Atemzug und mit jeder Zelle meines Körpers, dass mein Leben zu Ende ist, einfach abgeschnitten. Vor mir gähnt der Abgrund. Nur eine allerletzte Hoffnung auf Rettung bleibt mir

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