Kindermund (German Edition)
Schatten an den Mauern, die uns folgen wie streunende Hunde. Es sind die Burschen, mit denen ich geflirtet und getanzt habe. DieFrau stößt harte Flüche aus. Mit einem Satz sind sie verschwunden. »Ungehörig, diese Lümmel! Ein Mädchen wie du gehört um Mitternacht ins Haus! Du darfst keine Begierden wecken! Du schläfst heute Nacht bei mir!«, zetert sie, bis wir vor einem düsteren Haus anhalten. Mir ist nicht wohl. Zu gerne wäre ich noch auf dem Fest geblieben, bis es hell wird, hätte gelacht, geflirtet, getanzt.
»Komm rein!« Wir stehen in einer Art Eingangshalle, sie ist leer. Nur die Mutter Gottes leuchtet in Hellblau und Rosa aus einer Wandnische.
»Ich zeig dir dein Zimmer.« Sie führt mich in einen großen Raum, der durch eine Neonröhre an der Decke erhellt wird. Ein Eisenbett auf hohen Beinen mit einer gehäkelten Decke wirkt nicht besonders einladend. Die Häkeldecke ist so akkurat gezogen, dass sie keine einzige Falte wirft. Der Abstand der Fransen zum Boden ist auf beiden Seiten exakt gleich. Mit energischem Schwung wirft Luiza die weißen Spitzenvorhänge übereinander. »Gute Nacht!« Sie fasst ins Weihwasserbecken an der Wand, spritzt die Tropfen in meine Richtung und schließt mit Nachdruck die Tür. Sie muss mich gar nicht einschließen, denn so bestimmt, wie sie die Tür geschlossen hat, würde ich niemals wagen, sie zu öffnen.
Ein bisschen enttäuscht setze ich mich auf den einzigen Stuhl, lasse meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Dem Bett gegenüber steht wieder Maria in Lebensgröße. In ihren Armen hält sie den toten Jesus. Die Dornenkrone und seine Stirn sind blutverschmiert. An einem Finger der Mutter Gottes hängt ein Rosenkranz mit schwarzen Perlen.
Ich fürchte mich in diesem Raum, die Angst, nicht atmen zu können, schleicht sich wieder heran. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich mit dem Bett anzufreunden und in den Schlaf zu flüchten. Ich ziehe Stiefel und Jeans aus, die Kälte des Steinbodens steigt mir die Beine hoch. Ich strecke mich zum Lichtschalter neben der Tür, lösche die Neonröhre, krieche unter die Decke. Meine Augen gewöhnen sich andie Dunkelheit, ich kann die Umrisse von Maria und Jesus erkennen. Der Rosenkranz bewegt sich sacht, als hätte ihn ein Windhauch gestreift. Ich presse die Augenlider aufeinander, ich will da nicht mehr hinschauen!
Da erscheint das Bild von diesem Jungen auf dem Fest in meinem Kopf. Er stand den ganzen Abend an denselben Baum gelehnt und schaute zu mir herüber. Wahrscheinlich war er zu schüchtern, um mich anzusprechen. Seine Gesichtszüge sind fein und zart, wie die eines Mädchens. Dieser stille Blick lässt mich nicht los. Er gehörte nicht zu den Strizzis, die uns verfolgt haben. Aber als ich mit Luiza an ihm vorbeiging, drückte er mir ein Stück Papier in die Hand, das ich in die Tasche meiner Jeans gesteckt habe. Sofort mache ich das Licht wieder an und finde den Zettel auf dem Boden. Ich rolle ihn auseinander. In Kinderschrift, mit Bleistift gekritzelt, steht da:«Morgen, 17 Uhr an der Bar. Ich werde dir etwas zeigen, Giacomo.« Ich mache das Licht aus und nehme das Gesicht Giacomos mit in meine Träume.
Tante Luiza weckt mich ziemlich früh mit dem Befehl: »Frühstück! In der Küche!« Nach wenigen Minuten stehe ich fertig angezogen vor ihr. Sie deutet auf das Waschbecken: »Da kannst du dir das Gesicht waschen.« Nachdem ich mich mit Kernseife geschrubbt habe, streichelt sie mir über die Wange, drückt einen festen Kuss darauf und sagt: »Du bist ein gutes Mädchen, das spüre ich!« Ich setze mich verlegen auf einen Stuhl, denn es passiert nicht oft, dass jemand etwas Freundliches über mich sagt.
Der Kaffee schmeckt anders, als ich ihn kenne, streng und bitter. Luiza legt eine dicke Scheibe Brot, üppig mit Butter und Marmelade bestrichen, auf meinen Teller. Dann schmiert sie eine zweite, und ich muss sie essen. Nach dem dritten Stück mache ich ihr Zeichen, dass ich nicht mehr kann. Sie lacht laut auf und deutet auf meinen dünnen Mädchenkörper: »Du musst essen, damit dir Brüste und Hüftenwie Sophia Loren wachsen! Ha, ha, ha!« Sie verschluckt sich vor Lachen und muss sich den Rock vor den Mund pressen, damit nicht die Speisebrocken durch die Küche fliegen. »Am Nachmittag nehme ich dich mit hoch zu den Gärten, Gemüse ernten.«
Nach der Siesta stapfen wir auf einem Pfad, der so schmal ist, dass wir nur hintereinander laufen können, außen am Dorf vorbei. Der Weg scheint noch höher in die
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