Kindermund (German Edition)
Berge zu führen. Schafe glotzen uns an, wilde Blumen recken ihre Köpfe, knorzige Bäumchen neigen sich tief. Die Gärten, die wir schließlich erreichen, erinnern mich an Schrebergärten, nur sind sie viel wilder, üppiger, schöner. Die Einwohner von Buccino bauen hier oben ihr Gemüse an. Während Luiza vor den Beeten kniet und rupft und ausgräbt, fülle ich die Körbe. Hoffentlich dauert es nicht zu lange, ich habe schließlich eine Verabredung.
Als die Gartenarbeit kein Ende nimmt, klage ich über Übelkeit und Schwindel. Luiza erhebt sich seufzend, schüttelt den Kopf und zwickt mich in die Nase. Mir schießen die Tränen in die Augen. Als ich laut aufschreie, lacht sie mich wieder aus. Dann schwingt sie sich die Körbe auf den Rücken, gibt mir den kleinsten, und wir machen uns auf den Weg zurück ins Dorf.
Im Haus helfe ich ihr auspacken. Lauch, Zucchini, Paprika, Tomaten werden auf den Tisch gelegt, um anschließend von Luiza geputzt zu werden. Ich erzähle ihr, dass ich meine Tasche aus dem Bus holen müsse, und verdrücke mich in Richtung Dorfplatz. Die Bar liegt gegenüber der Kirche in einem Eckhaus. In der Gasse, einige Meter vom Eingang entfernt, steht ein Moped. Darauf sitzt Giacomo und sieht mir entgegen. Als ich näher komme, sehe ich, dass er sich freut. Zuerst sagt keiner ein Wort. Der Junge sitzt auf seinem Moped, ich stehe wie ein Stock vor ihm. Er ist mutiger als ich: »Komm, steig auf, ich zeige dir das Paradies!«
Ich folge seiner Einladung, und wir brausen durch die engen Gassen hinaus aus dem Dorf. Meine Arme umschlingen Giacomos zarte Gestalt, meine Nase presse ich an seinen Rücken. Er riecht nach frischem Gras. Ich habe das Gefühl, dass er immer schneller fährt, aber es ist mir egal, ich genieße den Fahrtwind, die Wärme, Giacomos Geruch. Plötzlich hält er an. »Das ist das Paradies!« Er streckt beide Arme von sich, deutet in die Ferne. Vor uns liegen Hügelkuppen mit mehrfarbigem Pelz besetzt, dahinter glitzert das Meer. Die Sonne hängt als glühende Kugel darüber.
Giacomo sagt: »Siehst du, so sieht das Paradies aus, und ich liebe dich!« Ohne mich zu umarmen, küsst er mich stürmisch auf den Mund. Ich verliere das Gleichgewicht und falle auf den Po. Giacomo stürzt sich auf mich, und wir wälzen uns wie Kinder auf der Erde. Wir lachen, bis wir keine Luft mehr bekommen. Wir setzen uns beide auf, halten kurz inne, und dann küssen wir uns wirklich, erst scheu und zart, dann stärker, wilder, wir hören erst auf, als die Dämmerung heranschleicht.
»Sie werden uns suchen! Wir müssen sofort zurück!«, rufe ich.
Auf der Fahrt wird mir klar, dass die Knutscherei mit Giacomo ein Fehler war. Morgen reisen wir weiter, und wir werden uns nie wiedersehen. Außerdem ist er zwei Jahre jünger als ich. Die Menschen im Dorf werden mich mit Peitschenhieben ins Tal jagen.
Giacomo hält am Rand von Buccino an. Ich springe vom Moped und laufe davon, ohne mich umzudrehen. Kurz bevor ich die Häuser erreiche, mache ich einen kleinen Umweg über den Trampelpfad unterhalb des Dorfs. Von dort schaue ich nach oben. Die Felswand verschmilzt mit den Häusern. Zusammen bilden sie eine trutzige Befestigungsmauer. Aber die vielen Fenster, die freundlich in die Ferne schauen, laden jeden Besucher ein.
Sie feiern immer noch oder schon wieder. Ich höre das Akkordeon, und viele Stimmen singen mit. Von einem Moment zum anderen wird es dunkel. Die Gasse hat keine Laternen, und plötzlich höre ich ein Rauschen, das immer näher kommt. Ich bleibe stehen und lausche ins Dunkel. Es kommt aus dem Haus da vorne. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und stoße die Tür mit dem Fuß auf, sie ist nur angelehnt. Vor mir stürzt ein Wasserfall in die Tiefe. Es ist das Waschhaus des Dorfes, aber mich versetzt der Anblick in Panik. Ich renne aus der dunklen Gasse auf den beleuchteten Platz und beruhige mich erst wieder, als ich all die tanzenden, lachenden und gestikulierenden Menschen sehe.
Bei unserer Abreise am nächsten Morgen kommen noch einmal alle zusammen, um uns viel Glück zu wünschen. Sie beschenken uns mit Salami, Käse, Brot und Tomaten. Die Menschen umzingeln unseren Bus, Hände greifen durch die offenen Scheiben nach uns, Gesichter recken sich ins Innere. Dazwischen entdecke ich plötzlich Giacomo, er hält mir einen Blumenstrauß entgegen: »Aus dem Paradies!«, ruft er und ist verschwunden.
Heute darf ich vorne sitzen. Tränen laufen über mein Gesicht, als der Wagen über die engen
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