Kinderseelen Verstehen
Nähe haben müssen. Das kann ein Teddy, ein Stofftier, eine Puppe, eine Kuscheldecke oder etwas Ähnliches sein. Aus der Gegenwart dieses Objekts oder durch das Objekt selbst vermittelt sich das Kind eine Sicherheit. Und wenn es diese Sicherheit braucht, heißt dies, es befindet sich in einer erlebten Unsicherheit, nicht selten in Verbindung mit einem Gefühl der Verlassenheit.
Es ist gleichsam so, als würde man selbst für längere Zeit die eigene Familie/den Freund/die Partnerin verlassen müssen. Da nimmt man sich häufig ein Foto seiner Lieben mit, um es in den Stunden der Einsamkeit hervorzuholen, zu betrachten oder den Personen »per Foto« etwas zu sagen. Den gleichen Wert haben diese Gegenstände für Kinder. Insofern ist es entwicklungshinderlich, wenn Erwachsene den Kindern verbieten, solche Gegenstände von zu Hause in den Kindergarten mitzunehmen, weil sie solche Übergangsgegenstände (fachlich: Transitionsobjekte) nötig haben. Für den Fall, dass die Kinder im Kindergarten die persönlichen Schätze einmal aus der Hand legen müssen (zum Beispiel beim Essen, bei Werkarbeiten etc.), bietet es sich an, im Gruppen- und Werkraum »offene Schatzkästen« an der Wand anzubringen. Hier können Kinder ihre Schätze sowohl ablegen als auch immer wieder anschauen.
»Wenn ich mich nicht entwickeln darf, müssen andere dafür büßen« – Wenn die eigene Lebendigkeit unterdrückt wird
Kathleen, einem sechsjährigen Mädchen, fällt es sehr schwer, soziale Verhaltensweisen im Umgang mit anderen Kindern zu zeigen bzw. wertschätzend mit der Natur umzugehen. Sieht sie beispielsweise, dass zwei oder drei Kinder fröhlich und zufrieden miteinander spielen, geht sie zu ihnen und sagt: »Das ist doch ein blödes Spiel.« Es kann auch passieren, dass sie einen aus Holzteilen gebauten Turm mit dem Fuß umwirft oder den Kindern einen Spielgegenstand wegnimmt. Die Erzieherin meint dazu: »Kathleen hinterlässt dort, wo sie war, ein kleines Chaos oder sorgt zumindest stets für Unruhe.« Frühstückt ein Kind genüsslich und hat es seinen Kakaobecher vor sich auf dem Tisch stehen, ruckelt sie so stark am Tisch, dass der Becher umfällt. Auch Insekten und kleinere Tiere haben bei ihr kaum eine Überlebenschance. Marienkäfer werden erst in die Hand genommen und dann zerdrückt, Fliegen werden mit einem Tuch erschlagen. Es kommt auch vor, dass sie Blumen die Köpfe abknickt. Allerdings gibt es da etwas, was auf den ersten Blick unverständlich zu sein scheint: Kathleen sammelt Schnecken. Sie legt diese in einen Karton und »füttert« sie mit Löwenzahn, Gras oder Blättern.
Die Erzieherin ist mit ihrem Latein am Ende, denn sowohl Gespräche mit dem Mädchen als auch soziale Regelspiele, bei denen es um die Entwicklung von Einfühlungsvermögen (= Empathie) geht, sorgen leider nicht dafür, dass Kathleen ihre destruktiven Ausdrucksweisen verändert.
→ Der entscheidende Ausschnitt aus dem biografischen Hintergrund
Das Mädchen ist das jüngste von drei Kindern. Sie lebt mit ihren Eltern und Geschwistern in einer recht kleinen 3-Zimmer-Wohnung in einem Hochhaus und die Eltern geben sich redlich Mühe, ihre Kinder »ordentlich« zu erziehen. Dabei legt vor allem die Mutter großen Wert auf »Ordnung, Sauberkeit und gutes Benehmen«. Wenn Kathleen in den Kindergarten gebracht wird, sagt die Mutter beispielsweise bei der Verabschiedung des Kindes: »Und denke dran: Sei nicht so wild! Mach das, was von dir erwartet und verlangt wird. Halte dich an die Regeln und fall nicht wieder auf. Ich will nicht schon wieder irgendwelche Beschwerden hören. Also – mache keinen Unsinn.«
Zu Hause mahnt die Mutter, wenn die Kinder in der kleinen Wohnung herumspringen und -laufen: »Rennt nicht rum. Ihr wisst doch, dass die Wohnungen so hellhörig sind. Geht in euer Kinderzimmer und spielt – aber leise!« Darüber hinaus müssen die Spielsachen jeden Abend ordentlich in die Regale und Kisten zurückgelegt werden und in den anderen Zimmern darf kein Spielzeug von den Kindern herumliegen. Gehen die Eltern mit den Kindern einkaufen und Kathleen greift in den Geschäften nach irgendwelchen Gegenständen, heißt es sofort: »Lass das stehen. Fass das nicht an. Das brauchen wir nicht ...« Klettert Kathleen beim Spazierengehen auf eine Mauer, folgt postwendend die Ermahnung: »Komm da runter.«
Für Kathleen scheint der Großteil ihrer Welt ein »verbotenes Land« zu sein, das man zwar sehen und riechen, aber nicht anfassen, befühlen
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