Kinderseelen Verstehen
wollte zunächst die Schwangerschaft abbrechen, doch ihre Eltern boten ihrer Tochter an, dass sie sich als Großeltern um das Kind kümmern würden. Beispielsweise, wenn ihre Tochter eine Ausbildung beginnt. Der Vater des Kindes blieb der Öffentlichkeit unbekannt.
Die Geburt von Antonia verlief ohne größere Schwierigkeiten. Von Anfang an wurde allerdings deutlich, dass Antonias Mutter ihrer Tochter nicht die Aufmerksamkeit und Pflege zukommen ließ, die ein Kind braucht. Antonias Mutter tat das Nötigste – doch abends und vor allem am Wochenende zog es Antonias Mutter in die Stadt. Die Großmutter war dann stets zur Stelle und hielt somit ihr Versprechen ein. Mit knapp einem Jahr wurde Antonia dann in eine Kinderkrippe gebracht, die sie regelmäßig besuchte. Es gab viele Auseinandersetzungen zwischen Antonias Mutter und deren Mutter, die ihr vorhielt, sich immer weniger um Antonia zu kümmern, wenig mit ihr zu spielen (und wenn, dann sehr lustlos), kaum mit ihr nach draußen zu gehen und überhaupt an der Entwicklung von Antonia kein Interesse zu zeigen. Während einer solchen Konfliktauseinandersetzung fiel einmal von Antonias Mutter der Satz: »Heute würde ich auch sagen: Es wäre besser gewesen, wenn Antonia nicht geboren wäre.«
→ Bedeutungswert
Das Daumenlutschen kann als ein angenehm erlebbarer Entspannungsversuch betrachtet werden, um seelisch aufgestaute Spannungen zu reduzieren. Der Kontakt mit den Lippen, der warme Speichel, die gleichzeitige Wahrnehmung des eigenen Finger-/Handgeruchs und das teilweise rhythmische Saugen am Daumen bringen eine Form der Beruhigung ins aufgewühlte Kinderleben. Psychoanalytiker setzen das Daumenlutschen mit dem frühen Brustsaugen gleich, wodurch ein Kind genährt wird, alle wichtigen Nahrungselemente zum Wachsen erhält und vor allem seiner Mutter gleichzeitig ganz nahe ist. Eine der vielen entwicklungspsychologischen Gesetzmäßigkeiten lautet: »Kein Entwicklungsschritt, der nicht gesättigt, befriedigt und abgeschlossen ist, kann übersprungen werden. Insofern entspricht das Lebensalter eines Menschen nicht parallel seinem Entwicklungsalter.«
Wenn Antonia – bildlich gesprochen – sich selbst versorgen muss (aus ihrer erlebten Mangelsituation in den ersten Lebensjahren), drückt sie damit Folgendes aus: »Wenn ich von den Personen, die ich brauche, nicht gut versorgt werde, dann muss ich mich selbst versorgen, um meine inneren Spannungszustände in Entspannung umzuwandeln. Was bleibt mir anderes übrig, als mir selbst den Weg zur inneren Ruhe zu ebnen? Meine Mutter schafft es nicht und meine Großmutter ist nicht meine Mutter.«
In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, warum Antonia so gerne beim Wickeln und Füttern der Krippenkinder dabei ist. Ihre Gedanken werden sicherlich in diese Richtung gehen: »Wie angenehm es ist, so liebevoll gewickelt und gefüttert zu werden. Das hätte ich mir auch gewünscht.« Und dass ihre wenigen Spielaktivitäten sich ausschließlich auf einfache Rollenspiele mit dem Schwerpunkt »Mutter – Vater – Kind« beziehen, ist ebenso verständlich: »So etwas hätte ich auch gerne erlebt. Und weil ich das nicht erfahren durfte, versuche ich es zumindest im Spiel zu fühlen, wie schön es sein muss, wenn sich eine Mutter und ein Vater um ihr Kind kümmern.«
→ Praktische Hinweise
Wenn das Daumenlutschen einen seelischen Mangel (an erlebter Symbiose) repräsentiert, dann braucht Antonia eine weitaus tiefere Beziehungsqualität zu allen wichtigen Bindungspersonen in ihrem Umfeld – vor allem zu ihrer Mutter. Gleichzeitig muss ihr Umfeld verstehen, dass das Daumenlutschen nur der letzte Akt eines Einsamkeitserlebens ist, das Antonia in diesen tiefen Spannungszustand versetzt. Aufforderungen, den Daumen bzw. die Finger aus dem Mund zu nehmen, sind hier völlig fehl am Platze und entwicklungspsychologisch kontraproduktiv.
Anmerkung: Die Großmutter von Antonia hatte ihrer Enkelin in der Vergangenheit sogar schon eine unangenehm riechende Creme auf den Daumen und die beiden »Lutschfinger« aufgetragen, was verständlicherweise keinen Erfolg mit sich brachte. Eine sogenannte Symptombehandlung wird immer erfolglos bleiben, wenn die verantwortlichen Ursachen weiterhin Bestand haben.
→ Zusatzanmerkung
Einen ähnlichen, wenn auch nicht völlig gleichen Bedeutungswert finden wir in dem Verhaltensausdruck, wenn Kinder stets und ständig einen für sie bedeutsamen Gegenstand mit sich herumtragen und diesen immer in ihrer
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