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Kindersucher - Kriminalroman

Kindersucher - Kriminalroman

Titel: Kindersucher - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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»Nippes Avenue« verspottete, das steinerne Symbol einer grandiosen Selbsttäuschung, die Deutschland in die Schützengräben der Apokalypse getrieben hatte. Aber für Kraus entzündete dieser Monumentalismus auch Erinnerungen an etwas anderes, das vor dem Krieg geherrscht hatte: uneingeschränkter Optimismus. Wie fest alle in jenen Tagen geglaubt hatten, dass die Menschheit dabei war, sich weiterzuentwickeln, dass das Morgen immer besser sein würde als das Heute. So fest wie der Boden, auf dem sie standen, so lautete der allgemeine Konsens, und es gab niemanden, der anders dachte. Bis 1914.
    Wie hohl, wie fern dieser Glauben sich danach anfühlte.
    »Während meines Medizinstudiums«, meinte Kurt, als sie an der Statue von Albert dem Bären vorbeigingen, der 1170 gestorben war, »nannte man solche Leute immer noch minderwertig, geistesgestört. Jetzt allmählich«, fuhr er fort, während sie sich den schmutzigweißen Statuen von Otto I. und dem II. näherten, »sind wir besser in der Lage, Charakteristika dessen wahrzunehmen, was wir psychopathische Persönlichkeiten nennen. Depression. Neurosen. Unkontrollierte Aggression. Unfähigkeit zur Empathie.« Von den beiden Johannes mit ihren glänzenden Gesichtern gingen sie zu Waldemar dem Großen. »Einige glauben, dass diese Krankheiten ausschließlich durchdas Umfeld ausgelöst werden. Andere dagegen halten sie für vererblich. Oder, wie ich selbst, wahrscheinlich ausgelöst von einer Kombination äußerer Faktoren, verbunden mit angeborenen Anlagen.«
    Sie näherten sich den verschiedenen Ludwigs, und Kurt erklärte, dass Magda auf ihn, obwohl er sie noch nicht selbst getroffen hatte, wie jemand mit einem schizoiden Persönlichkeitsmuster wirkte, das eine ganze Reihe von paranoiden und psychopathischen Formen beinhaltete. Gleichgültigkeit. Entfremdung. Abwehrende Episoden von Argwohn. Wut. »Wenn sie das Gefühl hat, in Stücke zu zerbrechen, springt sie in einen losgelösten Zustand und versucht sozusagen, sich wieder zusammenzusetzen.«
    Nachdem sie alle Friederichs, die Joachims, die Wilhelms und die Friedrich Wilhelms hinter sich gelassen hatten, erreichten sie den großen Platz der Republik. Vor ihnen stand die gigantische Siegessäule, die Preußens Sieg über Frankreich im Jahre 1871 feierte und an deren Sockel reich verzierte Gedenkschilder für die Männer angebracht waren, die das ermöglicht hatten: Bismarck und Moltke. Rechts von ihnen erhob sich das gewaltige Gebäude des Reichstags, über dessen großer, gläserner Kuppel die schwarz-rot-goldene Fahne der Republik flatterte.
    Kurt blieb stehen und drehte sich zu Kraus herum. »Aber allmächtiger Gott, Willi«, er schüttelte den Kopf, nahm die Brille ab und putzte sie ungläubig, »lassen wir die Psychoanalyse einmal beiseite; was du da erzählst, klingt, als wäre dieses Mädchen eine Hexe aus einem mittelalterlichen Märchen, das durch den Wald streift und Kinder sucht, die es fressen kann. Die sie dann in eine unterirdische Höhle sperrt und der Reihe nach verzehrt.«
    »Es ist noch viel schlimmer, Kurt. Dort unten hatten sie eine Todesfabrik errichtet. Und ihre Opfer mussten die Drecksarbeiterledigen. Alles war vollkommen durchgeplant. Außerdem glaubt sie, sie würden der Welt einen großen Gefallen erweisen, indem sie sie von nutzlosen Mäulern befreiten.«
    Als der Charleston zu Ende war, beobachtete Kraus, wie Ava und Gunther keuchend auf ihre Stühle fielen. Das erinnerte ihn an Kurt, nachdem der seine Befragung von Magda an jenem Nachmittag beendet hatte: Er war in Kraus’ Büro gestolpert, kreideweiß vor Erschöpfung. Dann hatte er seine Brille abgenommen und sie nicht mehr aufgesetzt. Kurt hatte über drei Stunden mit Magda alleine in der Zelle verbracht und meinte, die Frau bestätige jede Theorie von Geisteskrankheiten – und zwar alle zugleich. Sowohl die Theorie, die Umwelteinflüsse als Ursache annahm, als auch die Schule der reinen Vererbungslehre, wie auch Adlers und Freuds Erklärungsversuche von kriminellem Verhalten. Sie hatte jede denkbare Art von Minderwertigkeitskomplexen.
    »Ich habe noch nie eine Persönlichkeit erlebt, die so aus den Fugen geraten ist. Weißt du, was sie gesagt hat? ›Ich fühle mich gut, wenn ich sie an mich drücke, nachdem sie tot sind. Dann bin ich nicht so allein. Aber ich verrate Ihnen ein kleines Geheimnis, Herr ... und zwar nur, weil Sie so nett sind. Diese Dame unter der Knochengasse bin nicht wirklich ich. Sicher, das bin ich, aber das bin

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